> 1400 km von Charkiw bis Győr

Als ich morgens zum Bahnhof Charkiw steuere, war mir klar, welche Reise vor mir liegt. Ich habe sie schon am Vorabend ausgemessen. Luftlinie jeweils
von Charkiw bis Kyiw: 409 km
von Kyiw bis Tschop: 641 km
von Tschop bis Budapest: 258 km
von Budapest bis Győr: 107 km

Alles in allem werden das weit mehr als 1400 km in vier Zügen.

Mein erster Zug ist wieder der Schnellzug IC+ und dafür darf ich den historischen Bahnhof Charkiw gen Gleis durchschreiten. IMG_20240229_071233.jpg

Diese Züge haben Ausstiegsplatten, die sich je nach Bahnhsteighöhe hochklappen lassen. Dadurch ist der Ein- und Ausstieg in Charkiw ebenerdig, aber in Kyiw bergsteigerisch zu bewältigen. IMG_20240229_083857.jpg

Zu Beginn mache ich einer netten Familie platz die zusammensitzen mag, aber ansonsten ist der Ausblick zwischen Wald … IMG_20240229_112050.jpg

… und Feld nicht anders als beim letzten Mal. IMG_20240229_112149.jpg

Nagut, vielleicht noch mal ein Städtchen oder Häuschen dazwischen.
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Bemerkenswert finde ich ja den Andrang beim kleinen Kiosk. Ohne Wartezeit ist da nix zu holen. Die Beschäftigten sind ganz schön am Schwitzen, wegen den ganzen Kaffees, Tees und Hotdogs. Wenn man nicht aufpasst geht man unter. Hier ist mir zum ersten Mal ein System aufgefallen, was mir Maria erklärt hatte. Wenn man an einen Ort kommt wo Leute anstehen, stehen sie nicht zwingend in einer Reihe. Deshalb fragt die neu dazukommende Person in die Runde, wer denn die letzte Person ist. Die meldet sich und an der orientiert man sich. Kommt wieder jemand, muss man sich dann selbst melden. So entstehen für mich “unsichtbare” Warteschlangen. IMG_20240229_112040.jpg

In Kyiw hatte ich mich mit Yarema verabredet, der aber noch eine Vorlesung hatte. Er studiert Film. Ich sitze schon Mal im Café und bekomme einen Orangen-Tee. IMG_20240229_140414.jpg

Ob das hip ist oder Tradition, weiß ich nicht, aber empfehlenswert. Yarema meinte, ich solle doch ein Sandwich dort essen, aber das gab es nicht, bis mir klar wurde, dass in diesem wundersam-digitalen Land man ja den QR-Code am Tisch scannen kann um die Speisekarte zu bekommen. Darüber kann auch bestellt und bezahlt werden. Als ich das Yarema erzähle, dass ich dachte, dass es kein Essen gibt, lacht er nur und kommentiert die allgegenwärtige Digitalisierung mit “Willkommen in der Ukraine”.

Ich erfahre noch einiges über ihn, z.B. dass sein jüngster Bruder schon fließend Polnisch spricht. Seine jüngeren Brüder sind mit seinen Eltern nach Warszawa gezogen. Er und sein älterer Bruder durften das Land aber nicht verlassen. Er beschreibt die grausamen Tage der Schlacht um Kyiw in manchen Momenten als erfüllend. Weil sich Menschen zusammengefunden und füreinander eingestanden haben. So war er Teil einer Gruppe die Essen für die Soldat:innen und Territorialverteidigung gekocht hätten. Sogar Molotow-Cocktails hätten viele vorbereitet, für den Fall dass die russische Armee die Stadt erreicht.

Er führt mich zum Schluss nochmal in ein altes Kino. Berufskrankheit eben. IMG_20240229_130647.jpg

Gerne hätten wir uns dort noch ein Drink genehmigt, weil statt dem Kino ist eine Bar drinn. Aber auch Größen der Kyiwer Filmbranche wären wohl dort gewesen, die ich aber nicht erkannte, aber als wir wieder draußen waren, konnte er sie bennen. IMG_20240229_155341.jpg

Er setzt mich in einen Bus zum Zentralni, mit den Worten, “bei Luftalarm rufste mich an, dann hält der der Bus und alle müssen aussteigen. Ich ruf dir dann ein Taxi”. Ist nicht gerade das was Gastfreundschaft ausmacht. Das man in den meisten Ländern nicht mit Luftalarm rechnen muss, sei dahingestellt, aber das Gefühl sicher zu sein, irgendwie schon anzukommen, das ist Gastfreundschaft. Das ist nur ein Beispiel. Danke Yarema.

Der Blog heißt ja “Bedarfshalt” und auf ukrainisch heißt dies “na vimogu”. Busse halten nur bei Bedarf. Entspannt habe ich meinen Zug erreicht und ich dachte ich habe die Lok photographiert, aber da der Zug in die andere Richtung fuhr, war es wohl nur eine Rangierlok. IMG_20240229_161910.jpg

Diesmal habe ich im Schlafzug zumindest die zweite Klasse, Kupe genannt. Leider waren alle Plätze doppelt beschriftet, sodass mich die Wagon-Schaffnerin zum Platz führen musste. IMG_20240229_162354.jpg

Die Ausführung der Wagons glich eher den bekannten mittel-osteuropäischen mit den Gang an der Seite, aber nur vier Betten im Abteil. Stauraum war recht wenig. IMG_20240229_174610.jpg

Alles wirkt eher modern. Es gab eine ausklappbare Leiter für den Aufstieg. IMG_20240301_060828.jpg

Jede:r bekam wieder ein Päckchen mit Handtuch, zwei Laken und Kopfkissenbezug. Diesmal wurde auch nicht so endlos geheizt, sodass schlafen möglich war. Im Abteil war unten ein Pärchen, wohl eher mittleres Alter, vielleicht in den 50ern. Ich war nicht darauf vorbereitet, aber nach dem ich ja tagelang Soldat:innen gesehen habe, muss es ja auch Verwundete geben. Der Mann hatte rechts nur noch den halben Arm, links auch, aber mit einer Prothese, die zwei Finger bildete, samt Uhr und Stift fürs Handy-Display. Sein rechtes Auge ist glasig, sein Gesicht fleckig. Im orangen T-Shirt und schwarzer Jogging-Hoste saß er am Tisch, wie seine Frau, im Handy versunken. Ich habe Stauraum gesucht und nicht gefunden, aber er war direkt hilfsbereit und ich konnte meinen Rucksack in der Kiste unter seinem Bett frachten.

Da das Pärchen schon ihr Betten ausgebreitet hatten, gab es nicht so recht Sitzplatz, aber der vierte im Bunde sprach mich mit seinem wenigen Englisch an. Von da an schauten wir sehr lange aus dem Fenster. Konstantin heiße er, auf dem Weg nach Wien. Er sei bald 79 Jahre alt und ja, er wirkte fit, aber seine grauen Haare und faltigen Hände zeigten das viele Leben an. Am 17. Mai sei geboren, 12 Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Immer wenn wir uns verstanden hatten, lachten wir etwas, aber es war schon beschwerlich uns zu verstehen. Manchmal zeigten wir nur auf etwas und die Kommunikation war etwas flach. Er deutete auf Müll und schüttelte den Kopf. Dann rauscht der Bahnhof “Butscha” an uns vorbei. Schlimm sei das. Der alte Konstantin ist in der Nähe von Kyiw geboren und hat 77 Jahre dort gelebt, nun lebt er in Wien, mit Frau und Tochter. Seine Tochter lerne Österreichisch, sagte er mit einem Lachen. Schwer sei das, sehr schwer. Vermutlich lernt er mit 79 wirklich kein Deutsch mehr. IMG_20240229_174636.jpg

Sein Sohn hat er besucht in Kyiw, im Krankenhaus. Der ist bei der Armee, aber es ginge ihn gut. Es geht wiedermal, um den Krieg. Wie Charkiw sei, will er wissen. Ich sage, sehr schön. bis auf den Krieg, aber ansonsten wunderschön. Mariupol sei wunderschön sagte er und schwärmt ein wenig. Wenn es ihn überkommt, wechselt er kurz zu ukrainisch. Mariupol sei so wunderbar gewesen, aber jetzt ist alles kaputt. Putin, er deutet auf seinen Kopf und macht die Schraube-locker-Bewegung, der ist schrecklich. und zum dritten Mal wird der oskar-nominierte Film “20 Tage in Mariupol” erwähnt. Gefühlt schaut die halbe Ukraine auf den Film und hofft das der gewinnt und für ihre Lage Aufmerksamkeit erzeugt. Ich verlinke mal die deutsche Variante, aber ich möchte vorausschicken, der Film hat es emotional in sich. Es ist gut jemanden dabei in den Arm nehmen zu können.
Für seine fast 79 ist er erstaunlich fit. Nicht nur läuft er immer noch Marathons und Solidaritäts-Läufe für die ukrainische Armee, auch im Kopf, denn überraschend spricht er den Taurus-Marschflugkörper an. Macron sei ein guter. Er sei dankbar Deutschland und Frankreich und den USA, denn sie helfen ja. Das Gespräch ist ungesteuert, denn wir haben meist längere Pausen und können meist nur über Begriffe sprechen, die in allen Sprachen gleich sind. Aber oft weiß ich nicht, was ich sagen soll. Im schmalen Gang stehen wir zudem meist im Weg rum. IMG_20240229_174617.jpg

Irgendwann verschwinden die sandigen Böden und Kiefernwälder im Dunkel, dafür sehen wir uns an. Aus dem Fenster ist ein Spiegel geworden. Das zähe Gespräch fordert mir so einiges ab, aber da wir nun Reisefreunde sind, so denke ich, kann ich auch schlafen gehen.

5:50 weckt uns die Schaffnerin. Zumindest mich. Konstantin snoozt nochmal, bis die Schaffnerin erneut kommt. 6:20 erreichen wir Tschop, der Zug fährt weiter nach Uschhorod. Am Gleis 1 wird klar, warum das ein Umsteigebahnhof ist. IMG_20240301_062343.jpg

Hier können Normal-Spur-Züge einfahren. Tschop liegt im Dreiländereck Slowakei, Ungarn, Ukraine. Es steigen sehr viele Menschen aus und in der Halle stellen sich viele in eine Reihe und ohne erst so richtig zu wissen warum, mache ich mit. IMG_20240301_063820.jpg

Dann wird’s mir aber klarer, als dann die Grenz-Soldat:innen soweit sind, dass dahinter Ausreise-Kontrolle stattfindet. Wieder möchte einer in meinen Rucksack gucken. Aber so richtig Lust haben wir beide nicht, den Rucksack umfangreich aufzumachen. Was denn drinn sei, ich sage Klamotten und so. Tabak? Ich rauche nicht. Gut. Ohne auf eine Antwort zu warten, klappe ich alles zusammen und gehe zur Passkontrolle. Danach wieder warten. Der Wartesaal besteht zu größten Teilen aus jungen Frauen. Erst zehn Minuten vor Abfahrt dürfen wir aufs Gleis und in den Zug, aber da dann soll es schnell gehen. IMG_20240301_082122.jpg

Der Zug rollt seine knapp 5 km über den Grenzfluss in den Bahnhof Záhony und steht. Die ungarische Polizei geht in aller Seelenruhe durch den Zug, aber auch danach steht der Zug einfach. Mindestens eine Stunde passiert einfach nix. IMG_20240301_091823.jpg
Ich bin ja hier lange Standzeiten in Bahnhöfen gewohnt, aber das schien mir rekordverdächtig. Irgendwann rollt der Zug los, wo schon alle eingenickt sind. Tatsächlich ohne Verspätung wie ich an kommenden Haltestellen mitbekomme. Wir halten und durchfahren umfangreich viele Orte mit “ö”. IMG_20240301_124241.jpg

Manchmal, wenn der Halt länger dauert kommt der Typ mit dem Hammer. Das ist schon eine Erkenntnisse die sich auf viele der Zugfahrten der letzten Wochen bezieht. Es gibt eine Rad-Kontrolle mit einem Hammer an einem sehr langen Stab. Der haut damit gegen das Rad und anhand des “Klong”-Tons erkennt der dann, ob das so i.O. ist oder eben nicht. Manchmal wird für meine Gefühle aber auch so lange gegen das Rad gehauen, bis es den gewünschten Ton gibt. IMG_20240301_130023.jpg

So langsam bin ich durch mit im Zug sein und fiebere Budapest entgegen und bin ein wenig froh, dass wir ankommen. Der Zug selbst fährt weiter nach Wien. IMG_20240301_142506.jpg

Ich will ja nach Győr. Der Zug aus dem ich ausgestiegen bin, hält auch dort aber in Kyiw im Bahnhof konnte mir ein Ticket nach Győr, bzw. “Djer” wie die Stadt auf ukrainisch heißt, nicht verkauft werden. Nur bis Budapest oder Wien. Schaffner:innen in Ungarn sind sprachlich oft begrenzt ausgestattet und daher geht mein Weg zum Automaten und ich kaufe ein Ticket für den nächsten Zug nach Győr. Als ich zum Gleis gehe, merke ich, dass ich für den gleichen Zug, aus dem ich ausgestiegen bin, ein Ticket gekauft habe. Da Budapest-Keleti ein Kopfbahnhof ist, braucht die Bahn eh lang, eh es weitergeht, weil ja Lokomotiv ran- und abgemacht wird. So bin ich im gleichen Zug, nur in einem anderen Wagon. So waren es doch nur 3 Züge.

Ich bin ziemlich froh nach 34 Stunden mein Ziel erreicht zu haben. IMG_20240301_160352.jpg

 
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