Butscha und Irpin

Kyjiw ist so umfangreich und schon gestern habe ich dieses große Thema mit der Kiewer Rus angerissen. Darüber hinaus gibt es noch einen Partisanen-Park, ein Museum über die Ukraine im 2. Weltkrieg und in Bykiwnja (Ost-Kyjiw) gibt es ein Gelände mit den Überresten von 130.000 Menschen die dem Stalinismus zum Opfer gefallen sind. Ich muss also sehr selektiv wählen, es gibt zu viel zu entdecken und ich habe mich für Butscha und Irpin entschieden.

Zu erst aber steige ich zu meiner blauen Sause-Bahn hinab.
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Ich habe über die eway-Seite und Yaremas Hilfe die richtigen Marschrutkas rausgesucht, was wegen der Fülle an Linien einfach überwältigend ist. Es geht bis in die 4-stelligen Nummern. Es werden 10 Verkehrssysteme unterschieden, deren Nummerierung auch überschneiden kann:

Sich da durchzuwurschteln erscheint mir super schwierig. Um nach Butscha zu kommen braucht es Vorstadt-Marschrutkas der Linien 423 oder 424. Erstere endet am Bahnhof Butscha, zweitere fährt nur durch Butscha durch. Schaut man sich die eway-Karte an, könnte man denken, die Linien fahren nähe der Metro-Haltestelle Nywky ab, wo auch viele Linien starten. IMG_20240226_102742.jpg

Dem ist nicht so für 423 und 424. Eway zeigt die tatsächlichen Laufwege an. Die Startpunkte sind bei der Metro-Haltestelle Swjatoschyn, auf der großen Ausfallstraße stadtauswärts. Es kostet 45 Hrywnja. Ich hatte ja meine Berührungsängste mit den Marschrutkas, aber es war tatsächlich sehr entspannt. Ich steige am besten an Startpunkten ein und manchmal steht der Preis auch angeschrieben. Aber wenn man den Rechner auf dem Handy bereithält, tippt einem auch jemand den Preis ein, sodass man vorbereitet ist. Nachdem es mich über eine Stunde gekostet hat den richtigen Abfahrtspunkt zu finden, war ich dann dort, wo die Linien 423 und 424 starten. IMG_20240226_112611.jpg

Bevor es losgeht kann ich mir die Umgebung etwas anschauen. Groß steht Antonov an dem Gebäude hinter mir und unweit ist auch der Werksflughafen der Firma Antonov. Sie stellen Flugzeuge her und sind berühmt für die größten Transportflugzeuge. IMG_20240226_112608.jpg

Vergleichsweise entspannt klappern die Riesen-Dosen durch die Straßen, oft unbeeindruckt, manchmal auch wie angestochen. So ging es auch für mich weiter stadtauswärts, erstmal durch große Plattenbausiedlungen. IMG_20240226_113812.jpg
Butscha und Irpin sind Kleinstädte außerhalb Kyjiws, sodass wir auch ein paar Waldgebiete durchfahren. Für eine Weile nehmen die militärischen Stellungen wieder zu. Ob verlassen oder weiter in Takt, kann ich nicht sagen, aber es mangelt nicht an Gefechtsstellungen im Wald und am Straßenrand. IMG_20240226_155722.jpg

Kurz nach dem Ortseingang hüpfe ich auch aus der Dose und schaue mich um. Erstmal alles wie eine Kleinstadt eben. Als erstes treffe ich auf das Afghanistan-Denkmal. Die Sowjetunion hat lange vor der ISAF schon Mal Krieg gegen Afghanistan geführt und ist damit gescheitert. Trotzdem gibt es die Denkmäler, die die in Afghanistan gefallenenen Soldaten des jeweiligen Ortes ehren sollen. Angesichts der Tatsache das Butscha 2022 ein Kriegsschauplatz war, wirkt es verwirrend, dass es dieses Denkmal gibt. Mittlerweile hat der Spähpanzer eine Ukraine-Flagge, aber drunter ist eine Karte von Afghanistan. IMG_20240226_122420.jpg

Ansonsten ist im Ortsbild sehr viel seit 2022 wieder aufgebaut worden. Man muss genauer hinschauen und dann entdeckt man auch Schäden, z.B. an Laternen. IMG_20240226_122548.jpg

Die übriggebliebenen Schäden sind aber teilweise so massiv, dass schwer auszumachen ist, wie zerstört die schöne neue Fassade vom Nebengebäude gewesen sein muss. Übrigens ist auch hier Dresden wieder vorne dabei, zu helfen. IMG_20240226_122810.jpg

Ich finde den kleinen süßen Bahnhof. Es ist mir nicht klar, wie viele Züge hierher fahren. Am Bahnhof Kyjiw-Passagiere konnte ich nur drei in jede Richtung recherchieren, am Bahnhof Irpin dann ein Dutzend, an einem Tag. IMG_20240226_125416.jpg

Einer weiteren Tragik entbehren wohl die zerschossenen Gedenkstätten für die Befreiung vom Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Die Figur hatte wohl mal einen ganzen Kranz in der Hand. IMG_20240226_125849.jpg

In der Gegend waren auch verschiedene Graffiti-Künstler:innen unterwegs und u.a. der weltberühmte Banksy. Ob das Bild von ihm ist, weiß ich nicht, aber es würde zu ihm passen. IMG_20240226_130947.jpg

Vorbei am Rathaus in Butscha kommt man zur Kirche “St. Andreas der Apostel”, die wie so viele in der Ukraine sehr groß und mit goldenen Kuppeln gehalten ist. IMG_20240226_131417.jpg

Tritt man näher sieht man auch hier, das sie von Punkten übersät ist, an denen Kugeln den Putz gelöst haben. Am Eingang steht, dass man hier eines der Massengräber gefunden hat. Neben den Kriegsgeschehen 2022, dem russischen Versuch Kyjiw einzunehmen, kam es zu einem Massaker während der russischen Besatzung der Stadt. An das Abschlachten und Vergewaltigen von Gefangenen und Einwohner:innen der Stadt erinnert eine provisorische Wand hinter der Kirche. IMG_20240226_131509.jpg

Nur Sperrholzplatten führen zu den Platten mit den Namen und den vielen Blumen. Ich zähle über 500 Namen. IMG_20240226_132018.jpg

Nach der Rückeroberung haben internationale und ukrainische Teams die Massengräber gefunden und bei den allermeisten Erschießungen aus allernächster Nähe obduziert. Darüber hinaus gibt es eine Anzahl Menschen, bei denen unklar ist, wo die sind. Sie gelten als vermisst. Auf den vier Seiten der Säule stehen Listen mit Namen, samt Geburtsdatum, letzte Sichtung und in Klammern manchmal “Gefangenschaft”. IMG_20240226_131850.jpg

Das ist niederschmetternd, aber es ist auch nur ein Kriegsverbrechen der russischen Armee. Wer will kann sich über viele andere informieren. Ich finde es spannend und versuche Schlüsse zu ziehen, die dem ein Verständnis bringt. Was passiert, damit so etwas passiert? Ich war ja vorgestern in Babyn Jar, wo deutsche Truppen ein Blutbad angerichtet haben. Doch was braucht es, damit die Menschheit, nicht weitere anrichtet? Warum braucht es wieder solche Vernichtung.

In der Fußgängerzone werden Helden präsentiert, vielleicht Soldaten die Butscha verteidigt haben, oder im Massaker erschossen wurden, oder sonstwo gefallen sind, aber Söhne der Stadt sind. Da sie Gesicht und Geburtsdatum haben, bleibt man vielleicht stehen, wo jemand genauso alt war. Gleiche Generation, unterschiedliche Länder, unterschiedliche Wege. IMG_20240226_133916.jpg

Die berühmteren Zerstörungsbilder aus den Kriegstagen in Butscha stammen aus der Bahnhofstraße. Die führt südlich vom Bahnhof Richtung Irpin. In der Straße war jedes dritte Haus zerstört worden. IMG_20240226_140322.jpg

Besonders hier hat man sich um die Wiederaufbau bemüht, nochmehr als eh schon in Butscha, wo vieles sehr neu aussieht. Unterstrichen wird das vom Sonnenschein und den Schulkindern die fröhlich aus der Schule strömen. In der Straße wurde am 27. Februar, also 3 Tage nach dem Überfall auf die Gesamt-Ukraine eine russischer Konvoi angegriffen und aufgehalten. Deswegen war hier lange viel zerstörtes russisches Gerät.

Die Straße führt einen irgendwann nach Irpin, wo auch viel schon repariert wurde, aber noch etwas mehr liegen geblieben ist. Interessant ist auch, was mit den ganzen Kunstwerken auf den Trümmern passieren wird. IMG_20240226_142334.jpg

Besonders gut sind die alten Schießerein auf den dünnen Metall-Zäunen erkennbar. IMG_20240226_142612.jpg

In Irpin, das ein wenig größer ist, gibt es auch Parks, aber selbst da sind einige Bäume stark beschädigt. IMG_20240226_143936.jpg

Ähnlich der “Heldenstädte” in der UdSSR und anderen Ländern, wird auch jetzt in der Ukraine Städten dieser Titel verliehen. Irpin hat einen solchen bekommen. Warum sich die Ringer die Maske vom Gesicht reißen, weiß ich nicht. IMG_20240226_151301.jpg

Ich bin ziemlich vollgesaugt und such lediglich ein Marschrutka zurück nach Kyjiw. Aus dem Fenster betrachte ich ein wenig die Landschaft, als plötzlich ein Soldat einsteigt, mit der Kalischnikow unterm Arm baumelnd. Die Situation ging so schnell, dass eh ich begriff, dass alle ihre Ausweise gezückt haben, er schon wieder aus dem Fahrzeug war. Scheinbar ist das eher eine Formalie, weil ich hab ja nix vorgezeigt. Aber die anderen haben ihren Pass auf dem Handy gezeigt. Ich bin erneut baff, dass selbst das schon digitalisiert ist. Ein Land im Krieg wo alles per Handy bezahlt werden kann und alle Ausweise auf dem Handy sind. Ich hätt’s nich vorhergesagt.

Yarema zeigt mir später auch seine Ausweise auf dem Handy und bezeichnet das als notwendigen Kampf gegen die Korruption. Die starke Digitalisierung soll einiges transparenter machen, was vorher im Dunkeln lief. Ich hab ja gern Papier-Geld, Papier-Tickets und Papp-Ausweise, aber über lang oder kurz macht’s das Leben leichter.

Reicht, es braucht etwas gutes. Ich nehme die letzte Rolltreppe und mach uns mal lecker Wareniki mit Smetana (Schmand). IMG_20240226_162536.jpg

 
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