das Land in blau-gelb
Was wäre das Reisen nur, wenn wir uns immer streng an die Pläne halten? Der Nachtzug nach București ist wohl mit mindestens einem leeren Bett unterwegs. Der Plan wäre über Brașov, Debrecen, Győr und Innsbruck zurückzukehren. Gerhard hat einen großen Reise-Erfahrungsschatz und durch ein paar Fragen konnte ich Pläne ändern. Ich habe schon am frühen morgen meine sieben Sachen zusammengesucht und mich vom Friedhof gemacht. Gerhards Zu Hause ist so gut wie auf dem Friedhof für die berühmten Leute, d.h. direkt hinterm Fenster kann man teure Steingemälde über Humus bestaunen.
Gerhard, seine Katze und mich hat es nicht weiter gestört, insofern ja auch die “Sechziger” gestern gespielt haben. Gerhard ist großer Fan vom TSV 1860 München und so hatte ich eine emotionale Kommentierung im Spiel gegen den Halleschen FC.
Da Gerhard Dienstag bis Sonnabend arbeitet, verarbschiede ich ihn mit den Worten, dass das Bett kalt wird und er sich beeilen muss. Ich denke, er wird den Tag wohl dort verbringen und Nichts-Tun bevor morgen seine Arbeitswoche beginnt. Es hat sich nicht angefühlt, als wenn ich bei einem Gastgeber formal untergekommen wäre. Eher wie bei einem alten Kumpel. So war es sehr entspannend bei ihm. Zum Abschied schenkt er mir einen Glückskeks.
Schon die letzten Male hatte ich direkt gutes Glück am Busbahnhof und auch diesmal steht direkt an Position 1 der gesuchte Bus. Perfekt. Abfahrt in 15 Minuten, was will ich mehr. Der Busfahrer kann mir ein Ticket verkaufen, ach so muss es laufen. Der gute Mann ist ziemlich hochgewachsen, bestimmt in den 40ern, die Haare werden wohl in diesem Leben nicht mehr reichlich nachwachsen, die Lachfalten in den Augenwinkeln zeugen von einem guten Leben. Er ist Marke “lustiger Onkel”. Bestimmt gibt er täglich irgendjemanden einen gutgemeinten Klaps auf die Schultern.
Er macht Hinsetz-Bewegungen, die für mich sehr nach einem Toilettengang aussehen. Da er aber gleichzeitig eine 32 umkreist, wird mir klar, dass es um meine Sitznummer geht. Wir müssen herzlich lachen, was zum Glück auch Teil unser Zeichensprache ist, die einzige, die wir beide beherrschen.
Meinen Sitznachbar hatte diese Info nicht erreicht und ich muss ihn erstmal darüber unterrichten, dass er nur für einen Sitz bezahlt hat. Der Kollege neben mir hat dichtes alters-weißes Haar und den Gesichtsausdruck eines leitenden, nun leidenden, Angestellten. Bestimmt war er bis vor wenigen Jahren noch sehr wichtig, aber seit der Rente sucht er nach Kompensation. Zumindest redet er auch sehr stark mit anderen und dem Telephon, wenn er nicht gerade schläft. Vor uns sitzt seine, ich vermute, Partnerin samt Enkel. Der Enkel scheint ihm nicht die gewohnte Wichtigkeit zu verschaffen, sodass es ihm nicht gefällt mit diesem Gespräche zu führen oder zu spielen. Hinter dem Sitz aber, streichelt er seine Hand. Es ist sicher nicht einfach als Opa, beim Renteneinstieg, nur scheint er von der Generation zu sein, die darüber nicht redet. Ihr merkt, dass ich viel interpretiere und ihr seid euch sicher einig, dass es sehr subjektive Wahrnehmungen von mir sind. Ich möchte mein Gefühl vermitteln und kenne die Wahrheit meist nicht.
Der Bus ist fast voll ausgebucht und fährt nach Südosten, direkt in die äußerste Ecke der Republik Moldau. Auf dem Weg durchfahren wir weite Strecken mit Feldern und Weinbergen.
Ab und zu ein Dorf mit einfachen Häusern, samt Holzstapeln und Wellblech-Schuppen.
Damit umfährt er auch Transnistrien. Palanca heißt das allerletzte Dorf, wonach wir in die Grenzstation rollen. Erst nach einer Weile erkenne ich, dass es eine gemeinsame der moldauischen und ukrainischen Polizei ist. Auch die EU springt hier rum. Die Reisepässe wurden sehr lange einbehalten und so warteten wir gefühlt eine Stunde. Der nächste Bus, aus Chișinău kommend, steht schon in der Schlange. Zwischenzeitlich müssen wir auch alle aussteigen und unser Gepäck in die Halle tragen. Obschon es große Durchleuchtemaschinen gibt, wird händisch das Gepäck kontrolliert. Bei Koffern mag man einen schnellen Einblick bekommen, aber bei meiner geschnürten Wurst ist das weniger einfach. Allerdings scheine ich nicht gefährlich genug zu wirken, sodass er sich nur Jogging-Hose und Flip-Flops anschaut und zufrieden abwinkt.
Die Reisepässe kommen rein, als Stapel, und der Busfahrer fährt direkt los. Nun läuft der Stapel einmal durch den Bus, bis ein jede:r sich ihr Heft geschnappt hat. Die allermeisten Passagiere sind junge und alte Fraue mit blauen (ukrainischen) Reisepässe. Gerhard meinte, dass viele die, die Ukraine verlassen haben, nach Chișinău fliegen und dann mit dem Bus in die Ukraine fahren. Seit dem Angriff durch Russland ist der Flugverkehr eingestellt. Anders können sie ihre Angehörigen nicht besuchen, insbesondere die, die das Land nicht verlassen dürfen.
Ich habe auch zwei Stempel bekommen.
Nun bin ich also in einem Land, dass im Krieg ist, weil es von Russland angegriffen wird. Am anderen Ende sterben und kämpfen Menschen. Der Gedanke war schon länger da, aber wurde oft weggewischt. Soll ich mich zwischen all den anderen in die Luftschutzbunker quetschen? Ich bin damals nicht nach Venezuela gereist, weil mir Menschen “entgegen-flüchteten”. Nun gibt es auch viele Menschen, die die Ukraine verlassen haben, weil es auch gefährlich ist. Doch außerhalb der Kampfzonen ist die Gefahr überschaubar, so Gerhard. Nur bei speziellen Orten, wird überhaupt noch evakuiert. Das sind dann Fußballspiele und Einkaufszentren. Auf dieser Seite sind die Luftalarme statistisch aufgeschlüsselt alerts.in.ua. Die Raketenangriffe außerhalb der Frontbereiche sollen die Infrastruktur treffen um die Strom- und Wärme-Versorgung für die Bevölkerung zu zerstören. Also solange ich mich nicht in der Nähe von Kraftwerken aufhalte, sollte es unproblematisch sein. Ungarn und Rumänien kenne ich, aber die Ukraine, das ist spannend.
Von der Grenze sind es keine 50 Kilometer mehr bis ins Zentrum der 1-Million-Menschen-Metropole Odessa. Vielleicht der bislang größte Ort meiner Reise. Auf der Straße gibt es viele Armeeposten mit kleinen Beton-Hütten. An denen werden Autos kontrolliert, aber meist fahren alle langsam dran vorbei.
Die Unterkunft ist schnell gefunden, aber die möchte ja auch bezahlt werden. Das Kreditkarten-Problem habe ich bis heute nicht gelöst, also habe ich mir Euros besorgt und muss die tauschen. Da die allermeisten Tausch-Geschäfte keine Wechselkurse benennen, suche ich sehr lange. Aus früheren Reisen kommt die Erfahrung, dass es oft schlechte Wechselkurse sind, eine Stichprobe bestätigte das auch heute. Aber da wo es dransteht, ist der Wechselkurs sehr gut und sehr sehr nah am offiziellen Kurs. So bekome ich nach einigen Suche auch viele Hrywnja. Schwer auszusprechen, so dass ich eher “Grymnja” sage. So siehts aus.
Manche Währungen wie der Euro, US-Dollar und britische Pfund haben ihr eigenes Zeichen für die Tastatur. Das gibt es auch für die Hrywnja: ₴.
Die Straßen sind an vielen Ecken mit blau-gelben Flaggen geschmückt. Ob das immer so ist? Auch sonst ist einiges in blau-gelb gehalten, Brücken, Türen, Embleme. Ein erster Rundgang durch die Stadt zeigt, dass es ein Land im Verteidigungskampf ist. An vielen Stellen stehen Soldat:innen
und es gibt entsprechende, für mich unverständliche, Werbe-Plakate. Hier steht: Zum Schutz der Zukunft.
Läden verkaufen Klett-Abzeichen und Militär-Shops die Ausrüstung. Die Brusttasche, die wie ein Rucksack umgeschnallt wird, kenne ich bislang nur als militärische Ausrüstung, scheint aber in den normalen Alltag übernommen worden zu sein.
Odessa wirkt auf den ersten Blick sehr modern. Nur die Straßenbahn scheint denkmalgeschützt.
Wie in Moldau auch, gibt es hier die Ampeln die die Sekunden zurückzählen. Ich finde das ja eine dufte Erfindung, die gerne auch in Deutschland eingeführt werden darf.
Offensichtlich gibt es viel zu entdecken im schönen Odessa. Also morgen dann mehr. Aus der Ferne kann ich schon das Schwarze Meer sehen.