Eine Bahn, ein Stadion und ein Gasklempner für einen Diktator

Mit der Erinnerung an die legendäre Ohrfeige von Jean-Claude Juncker mit den Worten “Hallo Diktator” als er 2015 Viktor Orbán begrüßt, möchte ich starten. Denn ich habe einen Ausflug gemacht. In das Dorf Felcsút, mit deutlich weniger als 2.000 Einwohner:innen. Natürlich nicht ganz leicht dorthin zu kommen, aber es ist über die Landstraße fußläufig ab Bahnhof Bicske erreichbar. Bicske ist eine Kleinstadt an der Eisenbahntrasse, zwischen Győr und Budapest, und deutlich näher an Budapest. Sicherlich mit seinen knapp über 11.000 Einwohner:innen eine sehr gefährliche Stadt, und deshalb steht am Ortseingang, dass in der Stadt ein “Überwachungssystem im Betrieb” ist. IMG_20240303_145256.jpg

Hier eine Aufnahme dieser gefährlichen Metropole. IMG_20240303_144407.jpg

Deshalb fahren am Bahnhof Bicske …IMG_20240303_150823.jpg

… die Fernzüge so schnell durch, dass man auf Photos sehen kann, wie das Bild Zeile für Zeile aufgenommen wird. IMG_20240303_151708.jpg

Genug des Spottes, es soll ja gar nicht um Bicske gehen, sondern um Felcsút, einen noch viel kleinere Ort, aber vielleicht noch gefährlicher? Über Landstraßen … IMG_20240303_100308.jpg

… und Feldwegen nähere ich mich der Ortschaft. IMG_20240303_102126.jpg

Aber warum eigentlich? Felcsút ist der Ort in dem der Diktator Orbán aufgewachsen ist. Wo er seine Kindheit verbracht hat und zur Schule gegangen ist. Vielleicht das Essen von Mutti abgelehnt und sich mit Freunden an der Bushalte getroffen hat. Heute hat er wohl ein Wochenendhaus irgendwo im Ort, aber wo, das habe ich nicht gefunden. Nun ist Orbán seit 2010 Ministerpräsident und seitdem ist das Dörfchen reicher geworden, oder besser gesagt, am reichsten. Nicht direkt wegen ihm, aber sein Schulfreund Lőrinc Mészáros, Fidesz-Mitglied und Bürgermeist von Felcsút, ist der reichste Mensch Ungarns geworden, “zufällig” weil er mit seinen Firmen viel Geld durch staatliche Aufträge verdient. Kurz vorher ist ihm noch seine Gasinstallations-Firma fast pleite gegangen, aber wenn man Orbáns Freund ist, wird man eben Oligarch oder Strohmann.

Seit Orbán regiert fließen Gelder irgendwie magischerweise auf Umwege, fast magnetisch bis kurz vor seine eigenen Taschen, wo sich dann die Spur verliert. Tja, so ist das und so wohl auch mit 2.000.000 Euro von der Europäischen Union für eine schicke Schmalspurbahn. IMG_20240303_105155.jpg

Ja, da führten mich meine schönen Schuhe heute hin. Die Bahn hat allerdings keinen Anschluss an das restliche Bahnnetz. IMG_20240303_104826.jpg

und sie hat nur drei Haltestellen. Sie fährt von Puskás Akadémia IMG_20240303_104537.jpg

über Felcsút IMG_20240303_132743.jpg

bis Alcsútdoboz Arborétum. IMG_20240303_130127.jpg

Dort angekommen fährt die Lok, übrigens von Rába hergestellt, bis zum Ende der Gleise und dann wieder ans andere Ende des Zugs um zurückzufahren. IMG_20240303_114200.jpg

Die zwei Wagons rollen 6 Mal am Tag jeweils einmal hin und zurück. Laut Antrag für die 80%-EU-Förderung sollen 2.500 - 7.000 Menschen am Tag die Bahn benutzen. Als ich einstieg, und es ist ein sonniger Ausflug-Sonntag, waren wir vielleicht 10 Fahrgäste. IMG_20240303_105124.jpg

Ich kann auf dem Photo 7 zählen, sagen wir mal mit den Nachzüglern maximal 15. In dem Wagon gibt es keine 40 Sitzplätze. IMG_20240303_105305.jpg

Es gibt ja auch den edlen Holzofen. Die Sitzbänke sind sehr eng gestellt, aber vielleich schaffen wir mit würgen und quetschen 50 Leute in ein Wagon. Das sind bei 2 Wagons, mal 2 mal 6 Fahrten, maximal 1.200 Fahrgäste. Kapazitätsgrenze. Wie viele wurden nochmal beantragt?

Schmalspurfans, Kinder und Familienausflügler kommen bestimmt trotzdem auf ihre Kosten. Ihr werdet überrascht sein, aber man kann vom Zug aus das Dorf Felcsút sehen. IMG_20240303_111109.jpg

Jede:r Wagon hat eine:n Schaffner:in, die einem ein Papier-Ticket gegen Geld aushändigt. Hin- und Zurück sind für 2.000 Forint (>5 Euro) zu haben. IMG_20240303_111118.jpg

Meine Fahrt dauerte 35 Minuten, wovon wir 10 Minuten im Bahnhof Felcsút standen. Dort gibt es ein Bahnwerk, weil die Loks und Wagons müssen ja gewartet werden. Es gibt insgesamt 2 Loks, hier ist die zweite vorm Werk. IMG_20240303_111658.jpg

Für die Sonntagsausflügler:innen war es sicherlich trotzdem ganz wunderbar, und so folge ich den anderen zum Schloss Alcsút. Von der Endhaltestelle sind es wenige hundert Meter zu Fuß. Dahin durchkreuzt man große Parkflächen für Autos. Gut, so ein Frühlings-Wochenende, lädt ein und die Budapester Großstadt-Familien haben es nicht allzu weit. Die Sonne zeigte sich besonders engagiert, sodass Winterstiefel und Winterjacke weder modisch noch funktionell angesagt waren.

So, nun, ist von dem Schloss Alcsút nicht mehr allzu viel übrig. Dass Monarchen ihre Schlösser verlieren, dem trauer ich selten nach, aber in diesem Falle wäre “Wald” die korrektere Bezeichnung. Tatsächlich soll es auch um den Erhalt von seltenen Pflanzen gehen. Nun verdichten sich die Auto- und Zuganreisenden, sodass umfangreich am Eingang zirkuliert wird. Hier begegnen mir auch die einzigen beiden nicht-ungarischen Begriffe: “cash” und “credit card”. IMG_20240303_115319.jpg

Ich mag es noch nicht erwähnt haben, aber ich bin kein Botaniker, kann also die seltenen Pflanzen, insbesondere auf ungarisch, nicht von den herkömmlichen unterscheiden. So ist aus dem besonderen Wald-Erlebnis, ein bezahltes Wald-Erlebnis geworden. Klar, manches erinnert so leicht an einen Schlossgarten. IMG_20240303_120914.jpg

Auch wiederholen sich die Erklärschilder für die Schneeglöckchen. Trotz meiner Wissenslücken in der Botanik ist mir diese besondere Blume doch schon Mal untergekommen. Ich möchte meinen als Kind im Garten, aber vielleicht irre ich mich, und das hier ist nicht das “Gewöhnliche Schneeglöckchen”. IMG_20240303_121121.jpg

So langsam wird mein Aufenthalt zum Slalomlauf. Große Familien haben sich zum Picknick verabredet, kleine Familien zum Insta-Shooting. Väter bewahren ihren Nachwuchs vor dem Verzehr nicht autorisierter Nahrung, die Mutter liest die Karte vom Gelände, die es am Eingang gab. Pärchen schreiten stumm durch den Wald oder photographieren sich vor rosa-blühenden Büschen. IMG_20240303_122233.jpg

Ein Teil vom Schloss steht aber noch. IMG_20240303_124016.jpg

Hinzu kommt, dass Wege gesperrt sind, sodass ich das Schloss samt Wald wenig weiterempfehlen kann. Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt einfach nicht. Hatte ich schon erwähnt, dass das Gelände 2011 von Orbáns Vater gekauft wurde? Also ein Jahr nach dem sein Sohni Präsi wurde. Zufälle gibts.

Lasst uns gemütlich in der kleinen Vál-Tal-Bahn, wie sie wohl auf deutsch heißt, zurückrütteln. Bis zur letzten Haltestelle “Puskás Akadémia”. Die Haltestelle ist nach dem örtlichen Fußballverein benannt, ein Jugend-Fußballverein. Der spielt auch in der ersten Liga, was für ein solches Dorf beachtlich ist. Aber nicht nur das, es ist auch der einzige Jugend-Verein in der ersten (ungarischen Gesamt-)Liga. Der dazugehörige Erwachsenen-Club spielt in Székesfehérvár, einer nahen Stadt, und auch in der ersten Liga. Puskás Akadémia FC hat auch ein großes Stadion, die Pancho Arena, neben einen knappen Dutzend weiteren Spielfeldern und Gebäuden. IMG_20240303_135813.jpg

Das Sportgelände ist für ein so kleines Dorf sehr groß. Ähnlich der Bahn entstand das Sportareal nach 2010, aber das ist sicherlich nur ein Zufall. In das Stadion passen 4.000 Zuschauer:innen. IMG_20240303_140102.jpg

Also wenn jede Felcsúterin und jeder Felcsúter zweimal kommt, ist immer noch Platz. Vielleicht wurden die Haustiere mitgerechnet. Wenn man sich rein auf die Architektur bezieht, ist es allerdings beeindruckend. Vielleicht tue ich diesem Leistungszentrum unrecht, aber es gibt in Felcsút, Orbáns Ort in Ungarn, einfach seit 2010, also seit Orbáns Machtantritt, so viele Zufälle: Das Dorf und sein Gasklempner bzw. Orbáns Freund werden die reichsten im Lande, eine Bimmelbahn wird gebaut, das historische Schloss vom Vati gekauft und eine riesige Sportanlage samt architektonisch hinreisenden Stadion gebaut. Noch Fragen?

Ja doch, wo geht denn hier der Bus nach Bicske? Gerade fährt er nicht, aber die Haltestelle am Stadion, die haben wir schön gestaltet. IMG_20240303_140739.jpg

 
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