Entspannen unter Luftalarm

Charkiw wirkt wie eine sehr lebenswerte Stadt. Denkt man sich mal alle Anzeichen des Kriegs weg, gibt es sehr viele Orte an denen sich ein schöner Sommer- oder Frühlingstag verbringen lässt. Die Metro ist schnell, die Wege aber auch nicht weit, der Fluss hat viele Sitzgelegenheiten, kleine Cafés säumen die Wege. IMG_20240228_120031.jpg

Dazu der blaue Himmel und viel Sonne, Zeit um im Park zu sitzen und zu entspannen. Mit Blick auf den Fluss Charkiw und im Hintergrund die beiden sozialistischen Bauten des Staatszirkus und der UkrTelekom. IMG_20240228_114016.jpg

So langsam neigt sich die Zeit dem Ende zu und ich bin soweit im Osten, dass ich dringend Richtung Westen reisen muss. Sodass sich erste Gedanken über die Gesamt-Reise breit machen. Was habe ich gesehen, gelernt, gerochen? Was hat mich verändert, was hab ich geändert? Aber noch ist es nicht soweit.

Ich beginne den Tag mit einen ungerichteten Streifzug Richtung Innenstadt. IMG_20240228_101902.jpg

Es gibt viele kleine Brücken und neben den gleichnamigen Fluss, ist der Lopan der Größere in der Stadt. IMG_20240228_103604.jpg

Viele Orte sind zur Zeit unbelebt, aber mit etwas Phantasie, wird auch in diese nach dem Krieg viel Leben einkehren können. Die leichten Hügel geben immer wieder Treppen mit Ausblick frei, auf denen es sich Kaffee und Wein trinken lässt. IMG_20240228_104140.jpg

Weil hier auch ein Platz namens “Maidan” ist, komme ich zur Erkenntnis, dass Maidan erstmal nur ein Wort für “Platz” ist und nicht zwingend den Euromaidan oder den Maidan in Kyiw meint. Hier ist der Platz der Verfassung (Maidan Konstituzii). IMG_20240228_104703.jpg

Dort erfahre ich auch, dass trotz Sonne, gerade einmal 2°C sind. IMG_20240228_110309.jpg

Auch Charkiw ist eine “Heldenstadt”, wie über dem Thermometer steht, weil sie sich erfolgreich gegen die russischen Angriffe verteidigen konnte. Es hat einen interessanten Geschmack, dass so ein Titel oder andere Gegebenheiten konstant aus der Sowjetzeit übernommen wurden, während andere konsequent als russisch abgelehnt werden. Es gibt auch ein Stück Prachtstraße mit stolz-stalinistischer Architektur, aber halt gerad mit Sperrholzelementen. IMG_20240228_111440.jpg

Mit dem Gedanken, vielleicht für ein Weilchen nochmal über einen schönen Bauern-Markt zu streifen, bin ich zum Zentralmarkt gegangen. IMG_20240228_122117.jpg

Doch bevor ich ins Gebäude konnte, sprachen mich zwei Polizisten an. Ich hab die zwischen den Menschen nicht erkannt, aber meine erste Vermutung war, dass ich die Straße überquert habe wo kein Zebrastreifen ist. Ich werde es nie herausfinden, denn während der Passkontrolle erschien es mir so, als wenn ihnen das zu mühselig ist, dass ich keine ihrer Sprachen spreche. Ihr Englisch wäre aber ausreichend und so wünschten wir uns noch einen schönen Tag und ich konnte ins Gebäude huschen. IMG_20240228_122542.jpg

Soweit das Auge reicht Frauen in weißen Schürzen mit frischen Fleisch in der Theke. Hygienisch-sauber aufgereiht, eine nach der anderen. Nebenan ebenso eine Bereich für Käse. Draußen dann etwas Freiluft-Markt oder Wellblech-Markt, aber alles sehr sauber und sortiert. Ich denke, ich habe selten einen so organisierten und herausgeputzten Markt dieser Sorte gesehen. An vielen Stellen hätte man fast vom Boden essen können. Es würde sich lohnen eine Karte dieses großen Geländes zu erstellen, weil sehr genau verteilt ist, wo was zu finden ist. Es gibt neben klassischen Verkaufsecken für Gemüße oder Taschen auch einfach welche für Schnürsenkel, Elektromotoren oder Weichspüler. IMG_20240228_122805.jpg

10 von 10 Sternen für den Charkiwer Zentralmarkt. Dort und anderen Orten habe ich Trinkwasser-Automaten gefunden, zumindest schätze ich, dass es solche sind, weil Leute mit Kanistern dort Wasser abfüllen. IMG_20240228_123715.jpg

Mittag gabs dort aber nicht. Auf der Suche nach was einfachem bin ich schlussendlich in einem dieser Einkaufszentren gelandet, wie es sie überall in Osteuropa gibt. Es bietet mir ein große Auswahl und ich kann aus sicherer Distanz verstehen, was überhaupt angeboten wird. Ich habe auch Essen bekommen und dazu gibt es “Kompot”. IMG_20240228_132012.jpg

Das hatte ich jetzt schon mehrfach in der Ukraine. In den Flaschen ist eine Art süßer Tee oder Beerensaft und scheint sehr verbreitet. Aber es ist nicht Kompott wie ihn meine Omi zubereitet.

Als ich mein Mahlzeit auf den Tisch hatte, ging mal wieder der Luftalarm los. Seit dem ich angekommen bin, gab es schon 10 Mal Alarm und davon nur ein Mal über Android. Die App funktioniert also zuverlässiger. Die Sirenen hört man natürlich nicht in jedem Gebäude immer deutlich. Zumal man sich ja auch ein stückweit daran gewöhnt hat. Hier in Charkiw kommt das deutlich öfter noch als in Kyiw oder Odesa. Trotzdem kommt aber auch ein mulmiges Gefühl manchmal auf. Da aber alle ruhig sitzen blieben, aß ich auch seelenruhig weiter. Für Minuten schallte aber auch eine Durchsage durchs Gebäude, die immer mit “Uwaha” (“Achtung”) begann. Durch meine gute Position konnte ich aber sehen, was mir vorher berichtet wurden ist, nämlich dass die Geschäfte schließen. Ich hatte noch keinen Luftalarm beim Einkaufen, zumal ich wenig einzukaufen habe. IMG_20240228_133228.jpg

Selbst die Restaurants machten zu, lediglich das Fitnessstudio und die Kinder-Welt blieben offen. In letzteren ist ein kleines Spieleparadies, wo Eltern ihre Kinder für eine Weile gegen Geld abgeben können. Trotz Luftalarm kam eine Mutter und hat ihre Kinder abgegeben, aber es waren auch sonst alle entspannt. Da aber ein Einkaufszentrum ohne Einkaufsmöglichkeiten seinen Sinn verliert, leerte es sich trotzdem rasch. Es ist ja meist nicht so, dass nach wenigen Minuten der Alarm aufgelöst wird. Meist dauert es schon eine halbe Stunde, gerne auch mal anderthalb Stunden. Ein Sicherheitsmensch rief mir dann irgendwas zu, aber als ich mich aufmachte, waren immer noch Menschen am Essen und Schwafeln. Der Hauptausgang war auch zu und ein wenig habe ich den Eindruck, dass die Beschäftigten die Zeit in der Sonne genossen, nicht zu arbeiten. IMG_20240228_134517.jpg

Ein Ein- und Ausgänge waren zu. Im Keller allerdings waren alle Geschäfte normal offen. Ich musste der Einkaufshölle also durch den Keller in die Metro ans Tageslicht entweichen. Der Weg durch die Straßen Charkiws wechselte zwischen großen Straßen und Plätzen, belebten hippen Straßenzügen und dann wieder eine zerstörte Ecke. IMG_20240228_150454.jpg

Man denkt ja nicht permanent daran, aber wenn man es mal vergessen hat, dann kommt sicherlich ein Gebäude, dass einen daran erinnert. Elena meinte auch, dass viele in die Dörfer gezogen sind, weil sie die Stadt für zu gefährlich halten. Auch deswegen ist im Verhältnis zur Größe der Metropole mancherorts wenig los.

Ich wollte eine andere Seite der Stadt sehen, denn Charkiw ist stark industriell geprägt. So werden Traktoren hergestellt für Landwirtschaft und Militär, aber auch gibt es mit dem Malyschew-Werk eine Produktion für die T64, T-80 und T84 Panzer. Eines der ehemals sowjetischen Produktionswerke liegt heute in der Ukraine, sodass für den Krieg sich nicht nur wegen der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit beide Seiten mit den gleichen Waffen bekriegen, darüber hinaus können beide Seiten diese auch weiterhin herstellen.IMG_20240228_140804.jpg

Die Metro-Haltestelle hat entsprechend einen Panzer als Zeichen. Alle Haltestellen haben ähnliche Namen und Symbole. Sportpalast hat einen Ball, der Bahnhof eine Lokomotive, das Traktorenwerk einen Traktor, usw. Selbst wenn man die Sprache nicht beherrscht ist es nicht schwer. Gibt auch hier nur drei Linien die sich farblich unterscheiden. Was ich allerdings Elena anfangs nicht glauben konnte ist, dass die Metro kostenlos ist. Doch dem ist tatsächlich so. Die Schranken sind daueroffen. Ich habe gehört, dass während des Luftalarms eh alle kostenlos in die Metro dürfen, weil es ja gleichzeitig Schutzräume sind. Vielleicht macht es deswegen keinen Sinn, ein Ticketsystem aufrecht zu erhalten, wenn eh alle naselang Luftalarm ist. Entgegen anderslautender Verlautbarungen fährt die Metro aber zuverlässig.

Elena meinte gestern auch noch, dass der Puschkin-Platz umbenannt sei. Alexander Puschkin gilt als DER russiche Dichter und da man hier dem russischen gelinde gesagt nicht viel abgewinnen kann, führt das zu einer Abkehr. Die Metrohaltestelle heißt auch noch Puschkin, aber oberirdisch findet sich nichts mit dem Namen. In der Schreibschrift an der Wand steht sogar noch die russische Schreibweise. IMG_20240228_152736.jpg

In den letzten Jahren wurden einige Orte umbenannt, die an die Sowjetzeit erinnert haben. Allein 5 der 30 Metro-Haltestellen erhielten neue Namen. Mir kann’s gleich sein. Erneut übertönt die Durchsage zum x-ten Mal das laute Scheppern in der Metrohaltestelle und beginnt wie immer mit “Schanovni Pasaschiri, …” (Liebe Fahrgäste, …). Auch das wird mir verborgen bleiben, aber es bringt mich heim. Bis dahin.

PS.: Morgen bin ich des nachts wieder im Zug, sodass ich nicht schreiben werde.

 
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