Gliwice
Meinen letzten Tag in Katowice widme ich einen Ausflug nach Gliwice. Ein wenig gleicht die Gegend um Katowice dem Ruhrgebiet, weil sich fast nahtlos verschiedene Industriestädt aneinander kleben, mit Katowice als größte in der Mitte.
Warum ich nun gerade nach Gliwice gefahren bin, nun, dafür braucht es etwas Geschichts-Hintergrund:
Die Region war und ist ein Kochtopf mit Menschen verschiedenster Herkünfte. Dominierend zu Beginn des 20. Jahrhundert waren dies Deutsche und Polen, neben anderen. Zuvor noch friedlich zusammenlebend, kam es nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Volksabstimmung und aufkeimenden aggressiven Nationalismus, der zu einer Teilung der Region führte. Während Katowice Teil Polens wurde, wurde Gliwice, dann in Gleiwitz umbenannt, und Teil des Deutschen Reiches.
An den Vortagen des Zweiten Weltkrieges wurden SS-Kommandos beauftragt verschiedene als polnische Kämpfer verkleidete Aktionen durchzuführen um eine Begründung für den Überfall auf Polen zu bekommen.
Eine Kommando-Aktion davon war der Überfall auf die Radiosendestation in Gliwice, dem “Sender Gleiwitz”. Das ganze dauerte nur wenige Minuten, die SS-Männer hielten eine Ansprache über Funk, die sinngemäß die polnischen Landsleute zum Aufstand aufruft. Ein vorher verhafteter und mitgebrachter Pole wurde als Täter und Toter präsentiert. Nicht ausschließlich auf dieses Ereignis bezieht sich der oberste Auftraggeber, als er von “ab 5:45 wird zurückgeschossen” spricht; womit bekanntlich der Zweite Weltkrieg begann.
Spannend an dem Ereignis ist, dass in der Gedankenwelt der Nazis, damals wie heute, man sich im Widerstand wähnt und nicht davor zurückschreckt den “Bösen” sogar selbst zu erschaffen. Im antisemitischen Weltbild meint man auch sich gegen die übergroße Gefahr zur Wehr setzen zu müssen. oder wenn die AfD die Gefahr von Grünen, Muslimen, Wärmepumpen, Klimaaktivsten, … so extrem darstellt, dass bei genaueren Hinsehen mensch sich verwundert die Augen reibt. Man möchte immer Opfer bleiben und sich gezwungen fühlen grausam zu werden. Dabei haben wir’s in der Hand.
Der Turm ist aus Holz und als Gedenkort gut gepflegt, sodass er der höchste Holzbau der Welt ist. Es gibt heute Sendeanlagen am Turm, z.B. fürs Handynetz, aber schon lange nicht mehr für’s Radio. Der Ort ist sehr gepflegt und liegt etwas am Rande von Gliwice. Es soll ein Museum geben, aber wohl eher zur schlesischen Rundfunkgeschichte, und soweit reicht mein Radiointeresse dann doch nicht.
Ich mach mich auf den Rückweg ins Zentrum und gehe lieber ins Palmenhaus. Dort ist es zudem schön warm. Neben riesigen und kleineren Palmen, treffe ich Orangen-, Bananen- und Granatapfel-Bäume. Es gibt Abteilungen mit Kakteen und Sukkulenten und auch wenige Terrarien. Im hintersten Bereich finden sich mehrere Aquarien und besonders bestaunend ist wohl ein großes Aquarium mit Amazons-Fischen, die sich in ihrer Größe einfach schon von den anderen Aquarien unterscheidet.
Zwischen all den tropischen Pflanzen kommen Erinnerungen hoch, wo ich doch einige der Pflanzen in echt in Südamerika gesehen habe. Hier mal der Artikel, wo ich 5 Tage auf dem Amazonas unterwegs war: notasdelsur.blackblogs.org
Das Palmenhaus liegt in einem kleinen Park und von dort schlendere ich durch die Altstadt langsam zur Straßenbahn-Haltestelle. Vorbei an der ehamligen Synagoge und dem Büro einer Arbeitsvermittlung namens “Job Center”, die viel gute Arbeit in Deutschland verspricht.
Es gibt weit außerhalb des Zentrums die Endhaltestelle, denn die “schlesische Straßenbahn” besteht aus einem großen Netz an Linien die von Gliwice im Westen bis Sosnowiec im Osten reicht. Mehr als zwei Dutzend Linien.
Mensch kann hier also sehr lange sehr viel Straßenbahn fahren zwischen den Städten. Zumindest für mich witzig, ist der Fakt, dass es eine “Null-Linie” gibt, sprich, so wie die Linie 41 von Katowice nach Chorzów fährt, fährt auch die Linie 0 von Chorzów nach Katowice. und zurück.
Qualität der Schienen und Wagen ist äußerst vielfältig. Mal schwebt die moderne Niederflurbahn so leise und entspannt dahin, dass man im geheizten und sonnendurchfluteten Wagen, kurz nach dem Mittagsmahl glückselig dahinrazzt. hust. Dann wieder kommt die älteste Bahn der Stadt angescheppert, sodass kein Gespräch möglich wäre. Zum Einstieg müsste man fast Bergsteiger:innen-Ausrüstung tragen. Die Schienen liesen es zu, einfach nur durch festhalten, Milch aufzuschäumen, so zuckig wird man hin und hergewürfelt. Da ist man wieder wach.
Tickets können in allen erdenklichen Arten erworben werden, aber besonders die alte Papiervariante erscheint mir die schwierigste. Es gibt wenige Automaten und die gehen auch nicht immer. Nicht alle Lesegeräte im Wagen können die dann abstempeln oder gehen auch nicht zwingend. Vermutlich war ich gestern wohl der Einzige, der es mit Papier versucht hat, weswegen ich heute direkt digital eingestiegen bin. Eine Variante ist über die polenweit nutzbare Jakdojade-App zu gehen. Dort hinterlegt man den Standort und eine Kreditkarte und kann beim Einstieg das Ticket auswählen, auch in seiner eigenen Sprache. Nach Auswahl des Tickets muss man dann einen der aufgehängten QR-Codes scannen. Dies scheint mir ziemlich kurios, einfach jeden Wagen, vermutlich auch Busse, mit einem Dutzend verschiedener(!) QR-Codes zu behängen.
Egal wie alt der Wagen aber sein mag, die Fahrgast-Anzeigetafeln wurden oft nachgerüstet. So zeigen diese neben den nächsten Stationen auch den aktuellen Standort auf einer Openstreetmap-Karte an. Dran vorbei lunzend träume ich durch den sonnigen Nachmittag während drausen, Einfamilienhäuser sich mit Wäldern, Zechen, Plattenbauten und Industrieanlagen abwechseln. Arbeiter:innen sind auf dem Weg in den Feierabend und Jugendliche treffen sich mit Freund:innen. Wo kann mensch Menschen besser beobachten als in einer schönen Straßenbahn? Ich würde euch ja gern eine spannende Story erzählen, aber irgendwie hat’s mir die Augen zugezogen. Bis morgen.