Hallo, Chișinău!

IMG_20240217_114847.jpg

“Te salut, Chișinău!” ruft die Baustelle. “Ich grüße dich”, oder einfach “Hallo” wird mir von der Plane her zugerufen. Der Anfang eines Tages, der mich kreuz und quer durch die Stadt führt mit meinem Schneckenhaus. Ich habe die bezahlte Unterkunft verlassen und freu mich auf den Couchsurfer heute abend. Aber bis dahin verbringen wir beide, mein Rucksack und ich, einen Tag in der Hauptstadt.
Tatsächlich bin ich mit Motivation unterwegs, aber es ist auch so genussvoll, sich treiben zu lassen. Ich biege in Straßen ab, die mir interessant erscheinen und verweile auf Parkbänken, wenn ich über so manches nachdenke. Es ist wirkt oft einsam, aber auch unbeschwert, den Gedanken mal so richtig nachgehen zu können. Ich beobachte Menschen und lasse Luft und Geräusche wirken. Es kommen Gedanken hoch, verschüttete Erfahrungen und überstaubte Gesichter steigen aus den Tiefen der Erinnerungen.
Ich schreibe gedankliche Briefe oder führe fiktive Unterhaltungen. Die Gedanken gehen weit, in die Fiktion und ich höre mir bekannte Menschen mir antworten. Ich merke meine eigenen Irrungen und formuliere neu. Es ist berührend und ich kann ehrlich mit mir sein. Ich kann hinneindenken, soweit weg von zu Hause, dass ich zu blinzeln beginne. Ich möchte nicht, dass die Menschen um mich herum, mich mehr beachten, als sie eh schon tun, wegen meines Schneckenhauses.
Aber ich liege halb, aber angeschnallt, ganz pasabel auf dem Rucksack gelehnt und möchte die Gedanken nicht wegschieben. Ich möchte reingehen und die Wunde ausleuchten. Ich möchte mit mir Vereinbarungen treffen, Klarheiten schaffen, Sachen mal ausdiskutieren und Richtlinien festlegen.
Die Tränen sind warm, aber die Hände kalt geworden. Zeit weiter zu ziehen. Der Weg bis zum Bahnhof ist relativ weit und ich komme an vielen Verkaufsständen und Märkten vorbei. Auf Fußgängerwegen werden unzählige Lebensmittel verkauft, insbesondere auch Eingekochtes, Eingelegtes oder “Fermentiertes”, sprich selbstgemachter Wein. Hundert Meter weiter sind es aber auch viele Klamotten und dann eher Antiquitäten. Es gibt wohl kaum etwas nicht auch einfach am Straßenrand zu erstehen. Man muss nur wissen wo in der Stadt. IMG_20240217_144523.jpg

Ich möchte mir ein Ticket für den Nachtzug nach București organisieren, also zurück nach Rumänien. Zum wiederholten Mal treffe ich auf die entspannte Bedienung, die erstmal ihre vorangehende Tätigkeit abschließt. Hin und wieder, auch in einem Café beispielsweise, kommt es vor, dass man länger wartet, eh die Bedienung die Bestellung aufnimmt. Bei der Schalter-Dame für Zugtickets ist die vorangehende Tätigkeit, der Schnack mit der Kollegin. Nach drei Minuten bin ich dann dran. Ich bin weit und breit der einzige Käufer. IMG_20240216_153831.jpg

Allerdings scheint die Arbeit den Damen Spaß zu bereiten und sie jonglieren mit den 5 Wörtern Englisch die sie kennen und wir haben uns wenig zu sagen, aber viel zu lachen. Die ältere Dame vor mir hat sicherlich ihren 50ten gut gefeiert, sich einen praktischen blond-gefärbten Kurzhaarschnitt zugelegt und achtet auf ein stolzes Äußeres bei Klamotte und Make-up. Eigentlich auch die Voraussetzung vieler ihrer Gleichaltrigen die Tage bis zur Rente zu zählen und die Fahrgäste zu verfluchen. Sicherlich hat meine Bekanntschaft den deutlich glücklicheren Weg gewählt und empfindet beim Verkauf des Tickets große Freude. Es sei zu Bedenken, dass es ja kaum Züge gibt, die verkauft werden können.
Wie ich erst später erfahre, hat die Ukraine die Grenze zu Transnistrien gesperrt wodurch auch die Züge von Odessa eingestellt wurden. Vielleicht konnte ich deswegen auch nicht von Bălți aus mit dem Zug fahren. Dann bleibt im Personenverkehr nur noch der tägliche Nachtzug nach București und vielleicht noch ein oder zwei nach Iași. Damit ist die moldauische Bahn auch nur noch eine Außenstelle der rumänischen Bahn, der CFR. Man muss es schon sehr sehr wollen, ansonsten ergibt es einfach keinen Sinn. und um das noch zu beweisen bekomme ich mein Ticket im Umschlag der CFR. Diesmal ist es ein Bett, ich bin gespannt.
Ich verlasse die lustigen Beiden und treibe zurück in die Stadt. Es gibt einen alten Triumphbogen, nebst lustigen Treiben für eine Art Frühlingsfest. IMG_20240217_122937.jpg

und ein großes Parlament. IMG_20240217_124116.jpg

Es gibt dort 101 Abgeordnete und die stärkste Kraft ist die PAS (Partei der Aktion und Solidarität). Von der Ausrichtung her eher sozial-liberal. Mischung aus FDP und SPD. Direkt gegenüber ist das Haus der Präsidentin. IMG_20240217_124046.jpg

Maia Sandu, die Präsidentin, klingt nach einer spannenden Persönlichkeit. Ähnlich ein wenig den baltischen und skandinavischen Frauen, die an die Spitze ihrere Länder gewählt wurden. Auch Sandu wird vor allem von den jungen Leute unterstützt und fährt einen pro-europäischen Kurs. IMG_20240217_123643.jpg

Ich nehme Kurs auf eine Adresse leicht außerhalb des Zentrums und warte in der Dunkelheit und ohne Internet auf die Verabredung. Schon im Dunkeln erkenne ich am Gang, das Gerhard kommt. Gerhard ist mein Gastgeber und führt mich durch ein paar Gassen in sein kleines Reich. Im dörflich-bayrischen Deutsch setzt er sich in den Sessel und beginnt direkt zu erzählen. Er ist Ende 30 und lebt seit weit über 10 Jahren in Chișinău. Er kam zum FSJ hierher und es gefällt ihm hier. Ihm fallen seine halblangen blonden Strähnen immer wieder ins Gesicht, während er leicht glücklich und zufrieden eine Geschichte und Erfahrung nach der anderen teilt. Wir sind uns schnell in vielem einig und diskutieren die Politik in Deutschland und Moldau. Wie Menschen reisen und ob er aus seiner Höhle ein Museum machen kann. Er arbeitet als Englisch-Lehrer in der Stadt. Ein sympathischer Mann, solange man genügend Fragen hat. Eine verrückte Katze springt hier auch noch rum. Passend zur bäuerlichen Erscheinung mit der tiefen Stimme, die immer wieder die Vokale verzieht. Mach ich ja auch nicht anders, nur anders. also anders, und nicht gleich, aber auch nicht richtig.
Die Mauern sind dick und Luft ist kalt, aber das scheint den Wahl-Moldauer nicht zu stören. Nur beschwerlich wird der alte Pferdestall warm. Gut, dass er mir für das Sofa noch eine schwere Decke gegeben hat, die mich jetzt wärmt. Er ist im Nebenzimmer und döst schon, ganz zufrieden und das zu Recht. Unter welchen Umständen würdet ihr in die Republik Moldau ziehen? Seine Antwort war simpel und kurz, aber die meisten würden die Frage doch nicht so kurz halten. Bräuchte es viel für viele andere? Was würde mich in ein anderes Land ziehen lassen?

 
4
Kudos
 
4
Kudos

Now read this

Eine Bahn, ein Stadion und ein Gasklempner für einen Diktator

Mit der Erinnerung an die legendäre Ohrfeige von Jean-Claude Juncker mit den Worten “Hallo Diktator” als er 2015 Viktor Orbán begrüßt, möchte ich starten. Denn ich habe einen Ausflug gemacht. In das Dorf Felcsút, mit deutlich weniger als... Continue →