Herzlich Willkommen in der Slowakei …

Vor mir ragt ein neuer Gipfel auf. Aus seinem zackigen Eispanzer heraus luken einzelne Steine die mit weißen oder grüne Flechten bedeckt sind. Manchmal gibt es eine Reihe mit gelben Gras, wo Eis und Schnee durch den Wind nicht bleibt. Ich stehe auf dem Kamm der Hohen Tatra, da wo die höchsten Gipfel eine Kette von West nach Ost bilden. Nach Norden hin fällt das Gelände steil ab und geht in die polnische Vor-Tatra-Landschaft über. Richtung Süden kommen noch ein paar 2000er-Berge, aber dazwischen kann man durch auf die grüne plattere Landschaft dahinter schauen. Im Vergleich zu den Alpen ist die Hohe Tatra klein, besonders wenn es um die Fläche geht, aber für die Karpaten sind sie hoch und beherbergen die höchsten Gipfel Polens und der Slowakei. IMG_20240201_112632.jpg

Der Ausblick ist zu beiden Seiten unfassbar weit und atemberaubend. Bis hierhin waren es nur 2 oder 3 Kilometer, aber es hat locker über eine Stunde gebraucht.
Ich bin frühs in eine Info des Nationalparks gewackelt und habe Anlauf Nummer 2 für den Langlauf unternommen. Ob es denn in Zakopane auch Loipen gäbe. Zumindest sagt das die englischsprachige Seite discoverzakopane.com. Die junge Frau scheint mich zu verstehen, spricht aber nur polnisch mit ihren Computer und nimmt zwischendrein Anrufe entgegen. Auch sie schickt mich wieder zum Biathlon-Stadion in den Nachbarort. Ich versuche mehrfach klar zu machen, dass ich dort keine Ausrüstung bekomme. Irgendwann wird ihr auch das klar und sie hilft schon dadurch, dass sie auf polnisch googlen kann. Mir scheint es auch so, als wenn ich sie beim entspannen gestört habe, denn sie fordert mich mehrfach auf, Sachen selbst zu notieren, und zum Glück habe ich Stift und Zettel parat. Ich notiere mir eine Reihe von Buchstaben die auffällig viele C und Z enthalten.
Ich muss eine Anmerkung zu den Fußgängerüberwegen in Polen einreichen. Autos respektieren diese sehr penibel, sodass schon auf großer Distanz abgebremst wird. Ich bin noch ein gutes Stück vom Übergang entfernt und trotzdem wartet das Auto schon. Nicht selten bleib ich stehen um das Auto noch schell durchzulassen, aber nix ist, ich habe Vorfahrt. Hin und wieder halten sie allein schon, wenn ich parallel zur Straße gehe, auf die Gefahr hin, dass ich plötzlich am Fußgängerüberweg abbiegen könnte. Da ich nach dem Zug am meisten zu Fuß unterwegs bin, gefällt mir das sehr, auch wenn ich manchmal denke, dass halb Zakopane darauf wartet, dass jemand die Straßenseite wechselt. IMG_20240201_143925.jpg

Nun bin ich an der Stelle schon deutlich näher am Stadtteil Kuźnice als am Busbahnhof und beschließe für heute die Zeit sinnvoller zu nutzen. Bis Kuźnice zieht es sich dann doch noch, aber schlussendlich erreiche ich die untere Seilbahnstation. Die Seilbahn ist mit großen Gondeln ausgestattet, deutlich teurer, man muss in einer Mittelstation umsteigen und fährt von 1027 auf 1959 Metern Höhe. Also ein ganz anderes Kaliber als am Vortag. Viele der Menschen kommen um die Abfahrtshänge zu nutzen. IMG_20240201_105409.jpg

Ich habe auf den Weg in einem Wintersportausstatter kurz halt gemacht und mir die Steigeisen für die Schuhe ausgeliehen. Kurz nach der Ankunft auf dem Kasprowy Wierch, wie der Berg heißt, lege ich die Steigeisen an und bin beeindruckt von meinen neuen Fähigkeiten. Mit den neuen “Superkräften” stehe ich selbst bei ultra-glatten und steilen Hängen wie eine Eins. Das beschleunigt mich und ich folge den ausgetretenen Spuren nach Osten. Auf dem Kamm folgend erreiche ich nach wenigen hundert Metern den ersten Gipfel, an dem auch die meisten zurückkehren. Der Kamm ist gleichzeitig auch die Staatsgrenze. Auf der Grenze sind weiß-rote Grenzsteine, mit P auf der Nordseite und S auf der Südseite. IMG_20240201_112618.jpg

Es beginnt auch von Wandern zu Klettern überzugehen, dass heißt hin und wieder stütze ich mit den Händen ab. Offensichtlich sind schon andere mit Steigeisen hierlang gelaufen und deren Spur leitet mich hauptsächlich. Links und Rechts geht es steil viele hundert Meter bergab. Ich folge der Ausschilderung zum 2301 Meter hohen Świnica. Ich bin mir nicht sicher ob ich es schaffen werde, allein weil um 15 Uhr die letzte Gondel talwärts fährt und bei all den Massen, ist die letzte Gondel sicherlich auch sehr voll. Die Gondeln werden vollgestopft, ähnlich einer Sardinenbüchse.
Der wochenlang entstandene Schnee bildet auch Überhänge, die sicherlich gefährlich sind, sodass ich auf benutzten Pfaden bleibe. Das Photo ist auf dem Rückweg entstanden und ihr könnt gut den Überhang an Schnee sehen. Da will mensch nicht oben drauf stehen. IMG_20240201_125139.jpg

Ich will ja nicht mit einer Lawine talwärts fahren. Dann wäre ja mein Ticket für die Seilbahn umsonst.
Ich habe die ganze Zeit meine Uhr im Blick und nun stehe ich zum ersten Mal vor einer Wand, die mich zweifeln lässt. Bis hierher waren auch mal 45 Grad Gefälle möglich. Meist quert man diese aber nur. Jetzt scheint es steiler bergan zu gehen. IMG_20240201_121125.jpg

Mein Herz pocht schon deutlich, aber was soll’s. Ich bin erst kurz vorher einer Gruppe Bergsteiger begegnet. Die haben mich nur angeguckt und vorbei ziehen lassen. Gut, die haben auch alpine Schuhe an, sicherlich keine geliehenen alten Steigeisen, zudem eine Art Pickel in der Hand, Bergsteiger-Bekleidung und sonstigen Firlefanz. Ich habe die Gruppe in Fahrtrichtung überholt, was mich verwundert hat. Die machen ständig Pause, sodass ich schon bald sie nicht mehr sehe. Für die mag ich mit meiner Jeans, den Lederschuhen, dem Pulli und der Plastetüte auf dem Rücken fast schon albern wirken. Aber bislang war es ja nicht gefährlich. IMG_20240201_112640.jpg

Ich richte nochmal die Steigeisen, weil die ständig verrutschen. Der Anstieg ist fast nur auf allen Vieren möglich. Ich greife in die Löcher, die andere mit ihren Pickel gemacht haben. Manchmal gibt es auch Steinkanten, aber beides erscheint mir auch nicht 100% vertrauenswürdig, d.h. es kann auch gut abbrechen oder abrutschen. Mindestens 30 Minuten ziehe ich das durch. Mir ist sehr warm, obschon es natürlich Minusgrade sind, aber dieser halb-vertikale Anstieg schlaucht. Der Gipfel scheint nicht mehr weit, aber durch meine Gartenhandschuhe hindurch sind mir meine Finger schon halb eingefroren, weil ich sie ständig in den Schnee greifen müssen. Meine Bein- und Knie-muskulatur meldet sich nun immer deutlicher. Sie erinnert mich nochmal freundlich, dass ich das ganze Jahr sie sonst so angenehm und warm unter Schreibtischen parke und was das jetzt solle. Sie würden jetzt für nichts mehr garantieren wollen. Ich frag sie ob sie nicht auch auf diesen einen letzten Gipfel wöllten. IMG_20240201_114107.jpg

Nun springt der Kopf den Fingern und Beinen bei und erinnert mich an eine Erfahrung 2014 auf Kuba. Auf der Suche nach Abenteuer bin ich eine sehr alte Leiter in den Urwald hinabgeklettert und wollte von dort viele Kilometer zurück zur Ortschaft laufen. Das ging aber nur schwer, weil die Küste, die ich als Orientierung nutzen wollte, aus spitzen Steinformen bestand. Also musste ich mit kurzer Hose, T-Shirt, ohne Wasser und Machete mich durch den Dschungel schlagen. Das war so lange lustig, bis ich ein eindeutigen Hinweis erhielt, dass ich im Kreis gelaufen war. Im Dschungel verlaufen, das war gar nicht klug.
Als ich einmal wegrutsche, komme ich gedanklich zurück an den Berg und spreche einmal für mich selbst aus, dass das reicht.
Ich zücke kurz das Handy, aber es lässt sich bei über 45 Grad Neigung schwer bedienen. Kalte Hände tun ihres und erstmal meint das Handy mich mit einer Nachricht beglückwünschen zu müssen: “Herzlich willkommen in der Slowakei. Nutzen Sie ohne weitere Kosten innerhalb…” ja, ja, ist okay. Ich schaue auf die Karte und registriere 2218 Höhenmeter. Ist ja auch viel, schnell ein Photo und ab nach unten. IMG_20240201_121144.jpg

Der ist genauso schwierig wie der Hinweg und über lange Strecken muss ich rückwärts runterklettern, wie ich aufgestiegen bin. Die Gruppe kommt mir entgegen und ich merke, dass die sogar Seile und Karabiner dabei haben. Naja, die werden es wohl bis zum Gipfel schaffen.
Trotzdem suche ich nach Bestätigung, dass es richtig war abzubrechen. Ich hab Essen dabei und mache eine kurze Mittagspause. Die ich dann aber ins Gehen verlege, weil nur dann ist mir warm. Meine Hände kann ich endlich in den Jackentaschen aufwärmen. Oft bin ich sehr konzentriert auf den Weg und muss bewusst stehen bleiben um die Aussicht wirken zu lassen.
Nun kommt die Natur und reicht eine weitere Bestätigung nach. Wetter ändert sich in den Höhenlagen oft etwas schneller. Hier, auf den Bild, ist die herannahende Wolkenwand noch weit hinten zu sehen, aber sie war in weniger als einer halben Stunde da und hat alles eingehüllt. IMG_20240201_121133.jpg

Sturm und Schneefall ziehen auf. Keine Berge mehr weit und breit, nun ist alles weiß um mich herum. Die Steigeisen-Spuren, die meine Orientierung sind, sind nur Messerspitzen-Stiche im Schnee und ein wenig Schneefall reicht aus um diese Löcherchen zu füllen. Nun erweist sich der Weg als deutlich schwieriger zu folgen. Oft nur dadurch gekennzeichnet, dass ich im Tiefschnee einsinke, aber auf den Pfaden der Schnee verdichtet ist und mensch dort besser vorankommt. Ich möchte auch nicht zu nah an die Kante kommen. Nun wird das Rot der Grenzsteine zum einzigen, was man sehen kann, nur leider sind die Steine viel zu weit auseinander, dass man sich da simpel durchhangeln könnte. Auch führen viele Wege nicht direkt über die kleinen Gipfel sondern umgehen die auf Abkürzungen. Sprich, die Wege führen nicht zwingend an den Grenzsteinen lang.
In meinen Kopf bewerte ich meine alten Entscheidungen neu und höre die Stimme meines Lieblings-Wander-Kumpanen und Survival-Experte meines Vertrauens. Er ist mir bekannt, dass er Gefahren immer gut vorab recherchiert und entsprechend vorbereitet. Er hätte sicherlich abgeraten und den bekannten Satz gesprochen: “Da sieht man, wie man es nicht machen sollte”. Ich verneige mein Haupt vor dir und antworte: “Ja, so nicht, bitte nicht nachmachen!”
Ich meine den letzten Kraxel-Abschnitt zu erkennen und freue mich schon, dass es danach ebener voran geht. Erneut stehe ich neben dem Grenzstein und suche vergebens Spuren, an denen klar wird, dass hier der Weg weitergeht. IMG_20240201_133415.jpg

Ich nehme die vom Zugang gegenüberliegende Seite und beginne vorsichtig mit dem Abstieg. Allerdings versinke ich nach wenigen Metern bis zur Hüfte im Schnee. Das war also nicht der Weg. Es ist schwer daraus zu kommen, weil das warme Wetter der vorherigen Tage, die obere Schneeschicht zu einer Eisschicht gemacht hat. Durch diese bricht man durch, aber sie ist mit wenigen Zentimetern auch ziemlich hart.
Als sich aus dem Nebel endlich die Abfahrtspisten herausschälen fällt mir ein Stein vom Herz. Für mich war das genug Abenteuer. Klar, hinter der Komfortzone beginnt das Abenteuer, wie es so schön im englischen heißt, aber ich bin froh, dass man immer auch mal in die Komfortzone abbiegen kann. Ich quetsche mich zwischen anderen in die Kabine und wir verlassen langsam die Wolkenfelder. IMG_20240201_140353.jpg

Zurück in Zakopane, gebe ich die Steigeisen zurück. Die Dinger waren mit 25 Złoty ein Schnäppchen und ihre Superkräfte waren einfach grandios. Absolute Empfehlung für den winterlichen Tatra-Nationalpark. Sie haben heute mein Leben gerettet.
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