Katowice
Es gibt wohl den Ausspruch, dass eine Stadt alle Epochen seiner selbst zeigt und vermutlich stimmt das für sehr viele Städte. Besonders an Katowice scheint mir aber, dass es fast an jeder Ecke möglich ist. Große monumentale Bauten vergangener Monarchen stehen neben Backsteinhäusern der Industrialisierung. Um die Ecke ragen sozialistische Punkthochhäuser über die Umgebung, aber kontrastiert mit modernen gläsernen Bürohäusern oder neu-schicken Mehrfamilien-Kästen. Katowice ist wohl alles gleichermaßen und gleichzeitig.
In der Vergangenheit war der Kohle-Bergbau wichtig und in diesem Zuge entstanden viele Industriezweige. Von sehr vielen Punkten der Stadt aus sind alte Zechen zu sehen, abwechselnd mit intakten oder verfallenden Industriehallen und -transportbändern.
Wieder ist es gleichzeitig da und verwebt, aber auch am Ende und in der Zukunft. Klar kennen wir den Niedergang der Industrie nach der Wende in Ostdeutschland, aber wir kennen auch die Betriebe, die es bis heute weiterhin und erfolgreich gibt. Nicht anders ist es in Katowice.
Kulturell scheint man sich sehr Schlesien verbunden zu fühlen, zumal man die Hauptstadt der Woidwodschaft (≈ Bundesland) Schlesien ist. Schlesisches Parlament, Schlesisches Museum, oberschlesische Industrieregion, oberschlesische Kirchenkunst, schlesisches Theater, schlesische Philharmonie, oberschlesisches Kulturzentrum, … Vermutlich ist jeder Ziegel in Katowice schlesisch.
Die Zeit der Industrialisierung ist für mich in einer Stadt wie Katowice besonders interessant und so führen mich meine Schritte in den Stadtteil Nikiszowiec. Er ist ordentlich restauriert und für Touris hergerichtet, aber ich bin gefühlt in ganz Katowice gerade der einzige Tourist. Bevor ich zu dem genannten Stadtteil komme, muss ich aber zu meinen Erstaunen feststellen, dass es große Waldstücke und Seenlandschaften gibt. Zentrumsnah liegen weite Erholungsgebiete, die sicherlich in 6 Monaten wieder rappelvoll sein werden. Gerade ist gähnende Leere. Selbst von den Einheimischen sind nur die auf der Straße, die einen Hund haben.
Nikiszowiec ist ein beeindruckender Ort, weitläufig sind die roten Arbeiterhäuser erhalten geblieben und ein Streifzug durch den kleinen Stadtteil lohnt sich sehr.
Heute ist es nicht mehr der Stadtteil der einfachen Arbeiter:innen, die sind wohl in die Hochhäuser aus Volksrepublik-Zeiten gezogen. Das dunkle Rot, was farblich an Blut erinnert, gibt den Straßen an dem grauen Tag noch eine deutlichere Kälte. Es lässt sich gut vorstellen, wie die Bergleute nach unmenschlich langen Schichten in die kalten Häuser zurückkehrten. Keine 100 Meter entfernt liegt eine Kohle-Mine, die erst vor wenigen Jahren geschlossen wurde und nun abgewickelt wird.
Es gab wohl extra für den Bergbau eine kleine Schmalspurbahn.
Genauso nah am Wohngebiet ist ein großes Kraftwerk.
Im Zentrum von Nikiszowiec gibt es auch eine katholische Kirche, wie soll es anders auch sein. Zum ersten Mal sehe ich viele Menschen auf einen Haufen. Scheinbar war gerade Gottesdienst zu Ende und man wartete auf den Bus. Das ist Sonntag wohl für die Älteren tatsächlich noch Pflichtprogramm.
Irgendwie erinnerts auch an eine englische Kleinstadt.
Zurück im nördlichen Zentrum von Katowice suche ich das Spodek. Ein wohl berühmter Ufo-Bau in dem viele große Veranstaltungen stattfinden.
Leichtatlethik-Wettkämpfe, Ringen-Meisterschaften, verschiedenste Messen und offizielle Konferenzen, wie wohl auch ein Mal die Weltklimakonferenz. Zu Beginn der sozialistischen Epoche eröffnet, war es wohl architektonisch noch ein Meisterwerk. 12.000 Menschen passen rein und anfangs war es auch der Ort für große Veranstaltungen der SED-Schwester Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. Dadurch sprachen auch Fidel Castro und Leonid Breschnew in der Halle. Heute sind es zivilere Veranstaltungen, unter anderen sind auf der großen Straße Richtung Zentrum die Gewinner:innen verschiedener E-Sport-Meisterschaften dargestellt, die im Spodek ausgerichtet wurden.
Angrenzend gibt es das Kongresszentrum, was mit Wiese und Treppen überdacht ist, wodurch eine kleiner Ausblick entsteht. Eine weitere Zufallsentdeckung war der ehemalige Aufmarsch-Platz aus der Volksrepublik-Zeit, der sich vor einem riesigen Soldaten-Denkmal befindet.
Natürlich ist das Zentrum belebter, als die abgelegeneren Stadtteile. Heute fällt deutlich ins Auge, dass so wirklich jede:r ein rotes Herz sich angeklebt hat. Manche gleich mehrere und sogar auf ihren Hund den sie Gassi führen. Ich überlege, ob ich auch eins brauche, aber ich weiß ja gar nicht warum. Es ist der selbe Sticker den jemand dieser Figur verpasst hat.
Lange rätsele ich, warum und woher die roten Herzen kommen, aber gleichzeitig steht an jeder Ecke jemand der oder die mit einer bunten Büchse Spenden sammelt. Es sind kleine Kinder bis ältere Erwachsene, meist aber Jugendliche, nicht selten in Kostümen oder gar Cosplay-Outfit. Ein erster Schritt hin zu Lösung erfolgt, als ich beobachte, dass es für eine Spende die roten Herze gibt. Es ist übrigens fast unmöglich 50 Meter im Zentrum zu gehen ohne jemanden mit einer bunten Büchse zu begegnen
Passend dazu gibt es eine Art kleiner Weihnachtsmarkt, samt großer Bühne und Musik-Gruppen. Schon Mittags, wo es noch kaum jemanden juckt, werden bekannte Lieder nachgesungen.
Ich habe anhand der Photos nun rausgefunden, was sich geheimnisvolles weltweit in der polnischen Szene abspielt. Auf den Herzen steht übersetzt “Großes Orchester der Weihnachtlichen Wohltätigkeit”.
Es wird Geld gesammelt, was besonders Kinderkrankenhäusern bzw. Post/Long-Covid-Geschädigten zu Gute kommen soll. Zum Programm gehören heute auch Konzerte und Feuerwerke in vielen polnischen Städten. Beeindruckend an dem ganzen Rummel ist für mich, dass da so viele mitmachen und sehr viel geboten wird. Mehr zu dem Event auf Englisch und Polnisch findet ihr hier: en.wosp.org.pl