Touri-Rundfahrt in Charkiw

Gestern haben Yarema und ich noch die leckeren Wareniki verdrückt und weiterhin ausgiebig geschnackt. U.a. über so philosophische Themen wie Nationalismus und dessen Grenzen und politische Lösungen für die Ukraine. Was mir im Kopf geblieben ist, ist vor allem wie der Krieg den Blick auf die Russinnen und Russen beeinflusst. Ich meine explizit nicht Putin und seine Freunde, sondern die, die sich für Menschenrechte und Freiheiten in Russland einsetzen. Sie hätten mehr tun müssen, meinte er. Hier sterben jetzt Menschen. Aber solange wie das einfach jeden Tag weiter geht, scheint es keine einfache Lösung zu geben und vor allem betont Yarema stetig, wie wichtig einfach Waffen sind um dem Diktator von nebenan etwas entgegen zu setzen. Dann ist es doch, eigentlich ganz einfach.

Yarema hat mir auch den Floh ins Ohr gesetzt, dass doch Charkiw eine gute Idee wäre. Zweitgrößte Stadt des Landes, warum nicht, aber halt auch deutlich weiter im Osten. Von Charkiw aus, sind es nur noch etwas über 30km Luftlinie bis Russland. An der Grenze wird aber nicht gekämpft. Bis zur Kontaktlinie sind es ca. 100km. Er sprach auch viel über Kramatorsk, aber das ist dann nochmal ein anderes Level. Warum ich Charkiw, Charkiw nenne, naja, es ist genauso warum Kyjiw Kyjiw heißt. Hier mal ein Werbeplakat, dass für die korrekten englischen Städtenamen wirbt. IMG_20240227_152029.jpg

Da nun mal die Züge immer zu Tagesrandzeiten fahren, muss ich früh aufstehen und mit der Metro zum Bahnhof tingeln. IMG_20240227_054842.jpg

Ich habe offensichtlich nicht irgendein Zug erwischt, sondern vermutlich die schnellste Klasse die es gibt, den “IC+”. Sieht auch entsprechend neu aus. IMG_20240227_063711.jpg

Auffällig ist sofort, dass die Sitzreihen 5 Sitze ermöglichen. 3 links vom Gang und 2 rechts. Liegt das an der Breitspur? IMG_20240227_095203.jpg

Es wirkt auf jeden Fall nicht enger. Einen kleinen Kiosk gibt es auch noch in meinem Wagen, wie praktisch. So gehts los, während wir über den Dnipro fahren, geht die Sonne auf. Was ein atemraubender Moment. IMG_20240227_070252.jpg

Nach der Großstadt ändert sich die Umgebung und die berühmten Riesen-Felder erscheinen, die mitunter wie ein Meer bis zum Horizont reichen. IMG_20240227_091146.jpg

Da ist man schon erstaunt, wenn dann doch Mal ein See erscheint oder ein Hügel. IMG_20240227_094747.jpg

An den meisten Ortschaften fahren wir vorbei oder durchfahren einfach nur die Bahnhöfe. Das wird wohl das Geheimnis hinter IC+ sein. IMG_20240227_102754.jpg

Allerdings kämpfen Bildschirme auch um die Aufmerksamkeit und versuchen meinen Blick für die Landschaft zu stehlen. Irgendwelche Comic-Hunde retten Katzen, was ein Blödsinn. Zwischendrinn läuft aber auch so Info- und Hinweis-Kram. Da spielen Comic-Kinder Frisbee und die Frisbee landet im Kornfeld mit einem roten Schild mit weißen Totenkopf. Nun kommt der Erklärfuchs und erläutert, dass man die Frisbee besser im Feld lässt. Das gilt auch für beschossene Gebäude, ich schätze es geht um Blindgänger. Ich hatte mir noch keine Gedanken gemacht, wie man Kinder-tauglich vermittelt, dass man nicht auf Minen tritt.

Von Kyiw aus sind es über 400km Luftlinie bis Charkiw, sodass es Mittag ist, als wir ankommen. Direkt gegenüber der Ausstiegstüre, werde ich begrüßt. IMG_20240227_115632.jpg

Hier wie auch an anderen Orten gibt es einen starken Hang zu solchen Figuren. Um das zu verdeutlichen, habe ich heute mal welche photographiert. Nach dem Ausstieg drängt die Masse in das Bahnhofsgebäude, aber es geht nur langsam voran. Erst ist mir gar nicht klar warum, aber scheinbar lag es an der Polizei, die die Passagiere begutachtet. Auch hier ist der Innenraum aufs feinste renoviert. Mal ein Bild von der Decke. IMG_20240227_115922.jpg

Es wirkt, als wenn alle schnell durchgebeten werden und dann der Bahnhof wieder abgeschlossen wird. Zumindest wartet eine Frau vom Sicherheitsdienst schon mit dem Schlüssel am Ausgang. Es gibt einen kleinen Bahnhofsvorplatz, aber im Schönheitswettbewerb trägt auf diesen Platz das Bahnhofsgebäude den Sieg davon. IMG_20240227_120131.jpg

In der Vorbereitung habe ich keine:n Couchsurfing-Gastgeber:in gefunden. Die mir geantwortet haben, sind weggezogen. Die allermeisten sind in die Mittel- oder West-Ukraine gezogen. Manche auch weiter. Aber es gibt viele leere Apartments in der Stadt, sodass ich da was günstig abstauben kann. Elena, die Vermieterin, sammelt mich mit einem strahlenden Lächeln ein. Sie hatte mir vorher in Deutsch geschrieben und sprach mich direkt auf Deutsch an, aber wie sich herausstellte, war weder Deutsch, Ukrainisch, Englisch oder Russisch unsere gemeinsame Sprache, sondern Spanisch.

Die kleine Frau ist frisch gebackene Oma, wie sie mir erzählt. Ihre Familie ist weitestgehend nach Spanien gezogen, als die Schlacht um Charkiw begann. Sie ist ganz energisch, und als ich meinte, dass sie auch alles ruhig angehen kann, um zu zeigen, dass ich kein Stress habe, meinte sie, dass die Ukrainer:innen immer unter Strom stehen. Ein paar Jahre wird sie noch arbeiten, aber das mit Freude. Sie ist der Typ Mensch, der nach Lebensfreude sucht und diese findet. Die Menschen mitreißen kann, die mal Freund:innen zu sich einlädt. Fehler zu machen, ist kein Grund zum Innehalten, ein Grund zum Feiern. Ich freu mich über sie, denn sie ist gleich so offen und herzlich. Sie holt einige Beutel aus ihrem Fahrzeug und ich bekomme die Schlüssel. Voll gepackt stapfen wir ins Gebäude und als wir oben sind beziehen wir, also mehr sie als ich, die Wohnung erst. Sie ist zwar sauber, aber seit einiger Zeit nicht genutzt. Wie viele leer-stehende Wohnungen es wohl in dieser Stadt gibt.
Das Bett muss auch nochmal repariert werden, aber so kommen wir ins Gespräch. Warum eigentlich Spanien? Es ging alles plötzlich los, im März 2022 und da sind sie damals dorthin. Es ist leider sehr teuer dort, sagt sie. Sie ist Muttersprachlerin Russisch, aber nun spricht sie auch Ukrainisch meint sie. Ursprünglich ist sie auch mal in Russland geboren, aber lebt nun schon 40 Jahre in Charkiw. Mal von der Unterbrechung in Spanien abgesehen.
Wenn sie von Charkiw erzählt, leuchten ihre Augen. Viel schöner als Kyiw, war sie, oder ist sie, setzt sie nach. Sie hat mir angeboten mich in die Stadt mitzunehmen, was eigentlich nicht sehr weit ist, aber ich hab gesagt, dass ich was für’s Mittag suche und da würde sie mich rauslassen. Doch aus dem Transport wird eine Stadrundfahrt. Sie könne mich jetzt noch nicht rauslassen, sie müsse mir erst noch den großen Platz zeigen. Was sie denn arbeitet, frage ich, um ins Fettnäpfchen zu treten. Sie organisiert Apartments und ein kleines Hotel. Das hätte ich mir denken können. Aber das macht sie seit Jahren und mit Leidenschaft. Leider kommen weniger Leute. Jetzt kommen vor allem die Partnerinnen der Soldaten, die ihre Wohnungen mieten. Ob ich Journalist sei. Ich schätze Tourist findet sie abwägig. Nicht ganz, sage ich. Die Stadt sei voll mit verletzten Soldaten in den Krankenhäusern und da kommen eben die Angehörigen. Insgesamt hat vieles zugemacht. Vorher war es eine lebhafte Stadt, vorallem wegen den vielen Studierenden, an über 50 Universitäten. Es wurde viel gefeiert, das ist nicht mehr so. Die Stadt war voller Bars, Cafés und Restaurants. Am großen Platz stehen allein zwei Unis. Der große Platz, sei der größte in Europa. Tatsächlich ist der Platz unüberblickbar groß und zum Teil einfach nur Parkplatz. Am unteren Ende aber ein großer Kreis nebst Bäumen. IMG_20240227_142558.jpg

Inklusive Arbeiter. IMG_20240227_142631.jpg

Sie zeigt mir auch das Gebäude der Regionalverwaltung, dass bombardiert wurde. IMG_20240227_140827.jpg

Direkt gegenüber ist ein kleines Camp, was wieder Abscheu vor dem Krieg und den russischen Angreifern Ausdruck verleiht. Auch eine Rakete wird ausgestellt, Blöcke rund ums Campf wurden von Kindern bemalt und die Tage seit Kriegsbeginn gezählt. IMG_20240227_141208.jpg

Elena hat mich rausgelassen und irgendwie hat sie mich angesteckt mit ihrer positiven Idee, trotz Krieg und Zerstörung. Eines Tages wird es wieder eine wunderschöne Stadt sein, sagen wir. IMG_20240227_134304.jpg

Meine erste eigene Erkundungstour bei eisigen Temperaturen und Sonne sat führt am pompösen Theater vorbei. IMG_20240227_134628.jpg

Das Ensemble ist geflohen und hat nun sein Zu Hause in der Slowakei. Gleich neben dem Nationaltheater beginnt der Schewtschenko-Park. Wer kennt Schewtschenko? Na? Ich auch nicht. Es ist so eine Name, den man mal gehört hat, aber Schewtschenkos Lyrik habe ich noch nicht gelesen. Zumindest ist er ein berühmter Schreiber des 19. Jahrhundert. Ihm wurde eine Statue in den Park gesetzt, so sieht sie aus. IMG_20240227_135756.jpg

Unverpackt dagegen, die kleine Kunst am Rande. IMG_20240227_140343.jpg

Ganz in der Nähe findet sich eine Ecke mit größerer Zerstörung, die auch entsprechend abgesperrt ist. Die Wucht muss immens gewesen sein. Selbst an der Kirche im Park, die 50 Meter entfernt steht, ist das Gold von der Kuppel geflattert. IMG_20240227_135129.jpg

Viele Gebäude denen die Fenster aufgrund von Explosionen abhanden gekomen sind, oder die ihre teuren Fenster oder Inneneinrichtung davor beschützen möchten, nutzen Sperrholzplatten. In der Stadt auch wieder Grundlage für Kunst. IMG_20240227_142201.jpg

In der Stadt ist mir ein Werbeplakat aufgefallen, dass offensichtlich mit deutschen Geld finanziert wurde. Aber was es sagen möchte ist mir schleierhaft. IMG_20240227_142115.jpg

Hier mal die Übersetzung:
“Jetzt beginnt jeder Tag mit dem Lächeln der Kinder”
“Olena, die ein familienähnliches Waisenhaus gegründet hat”
“Pflege - ist auch Arbeit”
und dann die Telephonnummer.

Ist das ein Sorgentelephon, der Aufruf die Kinder in die Kita zu schicken oder soll das Arbeitskräfte für Deutschland werben? Ich komm’ nicht drauf.

Ansonsten scheint im Supermarkt, egal wo auf der Welt, deutsche Sprache ein Ausweis besonderer Bierqualität zu sein. Ich kann selbst hier x-verschiedene Biere aus Deutschland erstehen. Es gibt selbst “Thüringer”. IMG_20240227_160314.jpg

Das soll es für heute gewesen sein. Auch hier geht das Leben auf der Straße normal weiter, auch wenn ständig laut App Luftalarm ist. Aber Yarema meinte auch, die Raketen sind eh vor dem Alarm da. Aber das schreib ich nur, weil er hier mitliest. Alles ist überschaubar und bis morgen. IMG_20240227_162450.jpg

 
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Győr

Was ich zuvorderst genießen kann, ist die Tatsache, dass wieder Trinkwasser aus dem Hahn rinnt. Die letzten Tage musste ich Trinkwasser in Flaschen kaufen, was ätzend ist, zumal selbst dieses mir mindestens einmal über die Zeit schlecht... Continue →