Ungarns Ostbahn

Das typische Kling-Klang der Bahn über rumänische Schienen wiegt mich in Gedanken. Seit Stunden sitze ich in dem 6er-Abteil mit bunten Stühlen. Gerade schaue ich ins Handy, auf die Karte und lese den Abstand in Kilometer bis zum Ausstieg: 6km.

Ich habe schon viel gelesen die letzten Stunden. Über den demographischen Wandel und wie er die Bundesrepublik verändert, die ganzen sozialen Verschiebungen die sich daraus ergeben. Endlich mal ein Sachbuch, was mich auch fesselt. Aber gleichzeitig auch so erschreckt, weil es eine so große Dimension aufmacht, die gar nicht bearbeitet wird. Weniger Stress, aber mehr Einsamkeit. Viel Dopamin, wenig Oxytocin. Junge Menschen, die keine politischen Einfluss mehr entfalten. Wie Smartphone-Verbreitung und Wirtschaftskrise zusammenfallen. Mein Hirn ist voll und deswegen schaue ich raus, wenn ich nicht gerade die fehlenden Kilometer verfolge, oder wie das blaue Dreieck über die Karte kriecht. Noch 5km.

Draußen scheint es zu regnen. Die gelblich-weißen Punkte spiegeln sich verzerrt in den Straßen wieder. Wenn die Straße direkt neben der Schiene ist, sind auch die Laternen gut erkennbar, aber dann sind sie wieder nur eine Punktekette weit hinten. Hin und wieder erscheint ein beleuchtetes Plakat, dass in der Nacht im Nirgendwo jemand zum Kauf anregen soll. Noch 4km.

Ich habe ich mich gar nicht richtig verabschiedet. Nur von den beiden Kindern. Sie machen immer eine Prozedur und kleben eine Weile am Fenster. Zu erst beobachte ich das vom Frühstückstisch, als Mike auf Arbeit geht. Dann pass ich kurz auf die Kinder auf, damit Adriana einen Weg erledigen kann. Wir sprechen nochmal drüber wie sich Freundschaften verändern, wenn Kinder dazu kommen. Wir klagen unser Leid, aber dann möchte irgendein Kind ihre Aufmerksamkeit. und dann kommt ein Nachbar oder dergleichen. Ich muss los, kurze Umarmung und ab zum Bus. Zack, Bahnhof, Zug und weiter. IMG_20240208_095552.jpg

Ziemlich allein im EuroCity starten die langen Wagons in Košice und schon bald halten wir zum ersten Mal in Ungarn. Zwischen den unverständlichen Haltestellen gleiten wir durch die Tiefebene mit ihren Ackerflächen die bis zum Horizont reichen und gerade mit einigen Seen gesprengelt wurden. IMG_20240208_105443.jpg

Noch 3km, Zeit den Rucksack zu schnüren.

Mein erster Umstieg heute war Miskolc in Nordost-Ungarn. Die Stadt hat einen schicken Bahnhofsbau, aber sonst ist hier eher geschäftiges Umsteigen. IMG_20240208_112229.jpg

Ich folge der Straßenbahn in die Innenstadt, schlage einmal im Zentrum ab und drehe wieder um. Guckts euch an, so kann es aussehen. IMG_20240208_115715.jpg

Auf dem Weg ins Zentrum komme ich auch an großen Plakatwänden vorbei, an denen Stimmung gegen die EU gemacht wird. Orbans populistische Ablenkung. Wie bizarr, wenn man dann wieder an einem Schild vorbeikommt, wo “gefördert durch die EU” dransteht. IMG_20240208_114811.jpg

Noch 2km. Es fühlt sich so allein an im Zug. Draußen nehmen die Lichter der Stadt langsam zu.

Der zweite Zug heute war an sich interessant, weil seine gesamt Laufstrecke als Intercity ein Kreis darstellt. Er fährt vom Budapester Ostbahnhof nach Nordosten dreht dann nach Süden ab um wieder zurück zum Budapester Westbahnhof zu fahren. Vermutlich wäre man zu Fuß schneller, wenn es einen darum ginge vom Ost- zum Westbahnhof zu kommen. IMG_20240208_145600.jpg

Ich bin nur 90 Minuten auf diesem Zug und schaue auf Weinbau und kleine Ortschaften mit armen Häusern oder Postkartenmotive. Vielleicht auch beides zusammen. IMG_20240208_140718.jpg

Noch 1 km, ich stehe schon an der Tür und der Zug fährt schon deutlich langsamer, aber das konstant, vor sich hin.

Debrecen ist Ungarns zweitgrößte Stadt, nach der Hauptstadt. Vieles wirkt hier moderner, Straßen und Straßenbahn sind mehr im Schuss, die Häuser renovierter. Nur der Bahnhof hat noch den alten Kunststil.IMG_20240208_150706.jpg

Im Zentrum gibt es eine ganze Reihe historischer Gebäude. Ich pflanz mich auf einen Platz neben einer großen Kirche und alten Frau, die Bücher dabei hat. IMG_20240208_152911.jpg

Menschen hechten von links nach recht oder umgekehrt. Gehen Gassi, oder Treffen zufällig Bekannte. oder nicht zufällig und winken sich mit dem Handy am Ohr. Andere schauen, als wenn ihre Gedanken woanders sind. Die Sonne beginnt alles gelblicher anzustrahlen und die Älteren Leute gehen nach Hause, während die Tretroller zunehmen. Nun wirken die Verzierungen an den alten Häusern gleich noch markanter. IMG_20240208_161532.jpg

Zeit für mich in den letzten Zug einzusteigen, der dankenswerter Weise passend zum Sonnenuntergang wartet. IMG_20240208_163851.jpg

Noch 500m. Nun stehen doch noch ein paar Menschen mit im Gang und warten auf die Endhaltestelle.

Ja, der letzte Zug braucht seine Zeit. Zum Glück hat mir der Schaffner mit Händen zu Verstehen gegeben, dass ich im Abteil sitze, das abgekoppelt wird, sodass ich es bis zum Ziel geschafft habe und nicht in der ungarischen Pampa versauere. Ansonsten leerte sich noch in Ungarn der Zug relativ schnell und ich habe das Abteil die meiste Zeit für mich allein. An der Grenze warten wir zweimal. Erst wollen die Ungarn einmal alles überprüfen, und dann kommt nochmal die rumänische Polizei an Bord und sammelt von jedem und jeder einen Ausweis ein. Das zieht sich natürlich. Umso schöner, als dann der Zug wieder weiterruckelt, auch wenn es in Rumänien nicht mehr ganz so flott vorangeht. Dafür wiegt mich dieser Kling-Klang der Schienen immer wieder in Gedanken fort. IMG_20240208_180337.jpg

Ich merke wie die Bremsung eingeleitet und mein Körper in Fahrtrichtung gedrück wird. Vor uns gleitet ein Bahnsteig ein und ich kann die Tür entriegeln. Raus in die Nacht und doch, so einige schälen sich aus den Wagons. Ich war mit nichten allein. Stumm, im Regen und Dunkel der lauten Stadt verschwinden sie alle. Jeder für sich, einsam, aber pünktlich. IMG_20240208_220112.jpg

 
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